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Wabi-Sabi für Kinder

Einfachheit in frühpädagogischen Einrichtungen

Hilary White | Februar 2021

Wenn wir versuchen, unsere Kinder auf eine durchdachtere und nachhaltigere Art zu erziehen, können wir viel von der japanischen Tradition des Wabi-Sabi lernen. In diesem Artikel versuchen wir, unsere physische Umgebung in der Kindertagesstätte mit dem Wabi-Sabi-Blickwinkel zu betrachten.

Einfachheit und Raum

Traditionelles japanisches Design wird seit langem mit einer einfachen, aufgeräumten, minimalistischen Ästhetik in Verbindung gebracht. Lichte Räume, natürliche Materialien und eine begrenzte Anzahl sorgfältig ausgewählter und arrangierter Gegenstände sind die Markenzeichen einer Wabi-Sabi-Umgebung.

Viele dieser Gestaltungsprinzipien stehen im Einklang mit der pädagogischen Philosophie, die Maria Montessoris „vorbereiteter Umgebung“ zugrunde liegt. In ihren empirischen Studien mit Kleinkindern stellte Montessori fest, dass „Interesse und Konzentration gerade dadurch entstehen, dass Verwirrendes und Überflüssiges eliminiert wird“ (Montessori, 1982).

In Übereinstimmung mit dieser Beobachtung ordnete Montessori an, dass es in einem Montessori-Kinderhaus von jedem Gerät nur ein Exemplar geben sollte und dass jedes Hilfsmittel bestmöglich zur Geltung gebracht werden sollte, um die Aufmerksamkeit des Kindes zu erregen. Wir wissen nicht, ob Montessori Wabi-Sabi kannte, aber die Pädagogik, die vielen ihrer Methoden zugrunde liegt, erinnert auffallend an die Wabi-Sabi-Philosophie.

Ein Mädchen spielt in einer Wabi-Sabi-Umgebung

"Einfachheit" als eines der Schlüsselprinzipien für die Organisation einer frühkindlichen Einrichtung zu verwenden, kann überraschend einfach in die Praxis umzusetzen sein und bringt auch viele Vorteile für das Wohlbefinden und die Entwicklung der Kinder:

  • Wenn man so viel Freiraum wie möglich schafft und ihn mit neutralen Farben dekoriert, schafft man eine beruhigende Kulisse für das geschäftige Leben in der Einrichtung.
  • Die Anzahl der angebotenen Ressourcen zu reduzieren macht es leichter für die Kinder zu sehen, was ihnen zur Verfügung steht.
  • Eine ruhige, geräumige Umgebung ist weniger überwältigend und verwirrend als eine vollgestopfte, unordentliche Einrichtung.
  • Je weniger „Zeug“ Sie herumliegen haben, desto einfacher ist es, auffällige Arrangements zu erstellen und Ressourcen optimal zur Geltung zu bringen
  • Wenn Sie Ressourcen zurückhalten, können Sie variieren, was Sie zur Verfügung stellen, um immer wieder neues Interesse zu wecken und neue Herausforderungen einzuführen.
  • Es ist auch leichter, eine einfache, aufgeräumte Umgebung zu reinigen als einen überfüllten Raum – besonders wichtig während einer weltweiten Pandemie!

Wertvolle Besitztümer

Unsere Einstellung zu „Dingen“ neu zu formulieren, ist ein nützlicher Beitrag zum Entrümpelungsprozess. In ihrem für die westliche Leserschaft maßgeblichen Buch über Wabi-Sabi schlägt Beth Kempton vor, dass wir offene Regale nicht mehr als Aufbewahrungsort betrachten sollten, sondern sie stattdessen als Schatzkammer sehen sollten (Kempton, 2018).

Die Wabi-Sabi-Tradition, die Schönheit im Alltäglichen zu sehen, ist ebenfalls wichtig. Unsere Schätze müssen nicht selten oder teuer sein, vor allem, wenn sie mit Sorgfalt präsentiert werden. Kempton beschreibt, wie sie ihre Leinenschürze in ihrer Küche an einen Haken hängt und so diesen Alltagsgegenstand zu einem Ding der Schönheit macht (Kempton, 2018). Im Kontext einer Kindertagesstätte ist es erstaunlich, wie viel neues Interesse der Kinder geweckt wird, wenn ein selten genutzter Gegenstand an einen anderen Ort gestellt oder seine Anordnung innerhalb einer Gruppe von Gegenständen verändert wird, um eine Provokation im Sinne von Reggio Emilia zu schaffen.

Auf Details achten

Einen ruhigen, aufgeräumten Raum zu schaffen, ist ein wichtiger Aspekt jeden von Wabi-Sabi inspirierten Designs. Es ist aber die Liebe zum Detail, die der Einrichtung eine wahrhaft wabi-sabieske Aura verleiht.

Um eine wabi-sabieske Liebe zum Detail in Ihre Einrichtung zu bringen, sollten Sie Folgendes berücksichtigen:

  • Wie sehen Dinge im Verhältnis zueinander aus? Haben Sie kleine Fenster oder Oberlichter, die wie ein Rahmen um ein Objekt draußen wirken? Wie verändert sich das Bild mit dem Wetter, der Tageszeit oder den Jahreszeiten? Was ist durch den Rahmen einer offenen Tür zu sehen, und wie verändert sich dieses Bild? Lenken Sie die Aufmerksamkeit der Kinder auf diese visuellen Verhältnisse und warten Sie ab, was sie daraus machen. (Vielleicht ein Guckspiel durch die Tür?)
  • Achten Sie beim Anordnen von Gegenständen und Ressourcen darauf, wie sie sich optisch ausbalancieren. Schauen Sie sich verschiedene Möglichkeiten an, Horizontales und Vertikales zu kombinieren. Zum Beispiel Dosen mit Buntstiften (vertikal) und Bleistiftkästen aus Holz (horizontal). Probieren Sie, Gegenstände nach der „Dreierregel“ anzuordnen. Dahinter steckt die Theorie, dass ungerade Zahlen ins Auge fallen, weil sie dynamischer und weniger inszeniert wirken als gerade Zahlen.
  • Der Wabi-Sabi-Ansatz konzentriert sich bei Farben auf natürliche und neutrale Töne. Dadurch entsteht ein großartiger Hintergrund für farbintensive Impulse. Es ist besser, nicht zu viele bunte Materialien nebeneinander zu stellen. Platzieren Sie lieber nur eines vor einem neutralen Hintergrund wie einem schlichten Holzregal oder eine beige Wand. Das lenkt die Aufmerksamkeit der Kinder viel stärker auf sich als ein buntes Durcheinander.
  • Wählen Sie geheime Orte für kleine Gegenstände – ein winziges Bild an der Wand über der Bodenleiste; eine Familie von kleinen Spielzeugmäusen in einer Ecke hinter der Bücherbox; ein paar bunte polierte Kristalle, die in einem Korb mit Kieselsteinen versteckt sind. Erstellen Sie sich eine Liste mit Ideen, läuten Sie die Veränderungen ein und geben Sie den Kindern Hinweise, wenn es einen neuen versteckten Schatz zu suchen gibt.
  • Schauen Sie regelmäßig, ob es Sachen gibt, die alt und kaputt sind. Können sie repariert werden, damit man keine neuen kaufen muss? Beziehen Sie die Kinder in die Reparatur mit ein und freuen Sie sich mit ihnen, wie alle zusammengearbeitet haben, um diesem abgenutzten Gegenstand neues Leben einzuhauchen.
Einfache Anordnung von natürlichen Gegenständen auf einem rauen Holzbrett

Beobachtungen und Überprüfungen

Um Ihre Einrichtung aus der Wabi-Sabi-Perspektive zu sehen, ist es wesentlich, die Umgebung und ihre Inhalte regelmäßig zu beobachten und zu überprüfen. Nutzen Sie Beobachtungen, um herauszufinden, wie Ihre Räume in der Praxis funktionieren und welche Aktivitäten am wenigsten beliebt sind. Überprüfen Sie die Umgebung daraufhin, ob es überzählige oder überflüssige Materialien gibt. Führen Sie auf der Grundlage Ihrer Beobachtungen und Überprüfungen eine gewisse Flexibilität ein, damit sich die Umgebung entsprechend den Bedürfnissen der Kinder und dem Wechsel der Jahreszeiten ändern kann. Sobald die Änderungen vorgenommen wurden, sollten Sie genau beobachten, ob sie auch funktionieren.

Die Natur ins Haus holen

Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass die Natur eine wichtige Rolle bei der Verringerung des Stressniveaus von Kindern spielt, und dass sie ihnen hilft, besser zu lernen. Diese positiven Effekte scheinen nicht nur darauf zurückzuführen sein, dass Kinder sich draußen mehr bewegen, obwohl das natürlich auch eine Rolle spielt.

Es gibt zum Beispiel eine Studie aus dem Jahr 2016, die zeigt, dass ein Blick aus dem Fenster eines Gruppenraums auf Bäume und Wiesen die Herzfrequenz und das Stressniveau bei Kindern stärker senkt als ein Blick auf Gebäude (Liu und Sullivan, 2016). Obwohl in der Studie ältere Kinder untersucht wurden, ist es wahrscheinlich, dass die positive systemische Wirkung des Blicks in die Natur auf alle Altersgruppen übertragen werden kann.

Studien wie diese unterstreichen, was die uralte Philosophie von Wabi-Sabi schon immer wusste – dass es für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden von entscheidender Bedeutung ist, die Natur ins Haus zu holen und einen nahtlosen Übergang zwischen drinnen und draußen zu schaffen.

Ein Mädchen, das sich bückt, um heruntergefallene Blätter anzufassen. Von Andrew Donovan Blätter, Kastanien und andere Naturgegenstände. Von Oskar Kadaksoo

Auch dank der Waldkindergärten entwickeln Kitas zunehmend eine wabi-sabieske Beziehung zur Natur. Interessante Außenbereiche zu schaffen, die Grenzen zwischen Drinnen und Draußen zu überwinden und die Natur ins Haus zu holen, sind alles Strategien, die gut zur Wabi-Sabi-Philosophie passen. Um der Gegenwart der Natur in Ihrer Einrichtung mehr Tiefe und Feinheit zu verleihen, können Sie die folgenden von Wabi-Sabi inspirierten Ideen ausprobieren:

  • Suchen Sie nach Möglichkeiten, Licht und Wetter nach drinnen zu bringen. Haben Sie zum Beispiel ein Fenster, durch das Sonnenstrahlen auf den Boden fallen, eine Ecke, in der der Schatten tiefer wird, wenn die Sonne scheint, oder Terrassentüren, die auf ein Gebüsch blicken? Sorgen Sie nach Möglichkeit dafür, dass solche Stellen nicht durch Möbel verdecken werden und machen Sie die Kinder auf diese Naturphänomene aufmerksam.
  • Beth Kempton beschreibt die Jahreszeiten als „eine Art Wabi-Sabi-Metronom“ und erklärt, wie die vier Jahreszeiten in Japan „in das Gewebe des täglichen Lebens eingewoben“ sind (Kempton, 2018). Geben Sie dieser Auseinandersetzung mit dem Wechsel der Jahreszeiten durch Präsentationen von Naturgegenständen und saisonalen Farben für Kissen, Decken, Teppiche und Kunstwerke einen Raum. Auch für die Saison typische Mahlzeiten und Feiern können das Wesen der jeweiligen Jahreszeit widerspiegeln.
  • Die Wechselhaftigkeit des Wetters ist ein wichtiges Element für Wabi-Sabi, denn sie erinnert uns daran, im Jetzt zu leben. Helfen Sie den Kindern, das Wetter und seine Veränderungen wahrzunehmen. Achten Sie darauf, wie das Wetter und die Jahreszeiten die Kinder beeinflussen, und lassen Sie zu, dass Verhalten und Aktivitäten durch das Wetter bestimmt werden. Wenn Ihre Gruppe an windigen Tagen „aufgewirbelt“ ist, verbringen Sie Zeit im Freien und tanzen Sie im Wind. Seien Sie träge und faul wie Katzen, wenn es sehr heiß ist, und kuscheln Sie sich an einem grauen Winternachmittag gemütlich ein, um Geschichten zu hören.
  • Verwenden Sie die Natur und natürliche Gegenstände, um eine Vielzahl von Oberflächenstrukturen in die Einrichtung zu bringen. Regale und Böden aus Holz, Fußmatten aus Kokosfasern, Keramikfliesen, Marmorblöcke, Gefäße aus Metall, Holz, Terrakotta und Weidengeflecht, Vorhänge aus Leinen, Baumwolle und Wolle, Teppiche und Kissen sind nur einige der natürlichen Stoffe, die eine interessante Struktur haben – und im Allgemeinen umweltfreundlicher sind als synthetische Materialien.
  • Holen Sie die Natur ins Haus mit Blumen, Laub, Zweigen, Rinde, Gräsern, Federn, Kieseln, Muscheln, Steinen, Kristallen, Tannenzapfen, Kastanien, Nüssen und Samen. Verwenden Sie die Naturgegenstände, um die Jahreszeiten zu verdeutlichen und interessante Provokationen zu schaffen.

Wie bei jeder komplexen Philosophie ist es wichtig, dass wir nicht den Fehler machen, Wabi-Sabi-Ideen als Vorschriften zu interpretieren – insbesondere wenn es darum geht, eine wabi-sabieske Umgebung zu erzeugen. Ein zentraler Bestandteil der Wabi-Sabi-Philosophie ist, jede Lebensphase um ihrer selbst willen zu genießen. Unabhängig davon, ob Sie sich für viele oder nur wenige der Leitprinzipien entscheiden, sollte die wahrhaft wabi-sabieske Umgebung die Einzigartigkeit von Ihnen und Ihren Kindern widerspiegeln und mit der Freude, dem Staunen und dem Enthusiasmus der frühen Kindheit in Einklang stehen.

Die ursprüngliche englische Version dieses Artikels wurde erstmals in der Novemberausgabe 2020 des Early Years Educator (eye) Magazins veröffentlicht.

Literaturhinweise

Kempton, B. (2018) Wabi Sabi – Japanese Wisdom for a Perfectly Imperfect Life, Piatkus

Li, D., und Sullivan, W. C. (2016). Impact of views to school landscapes on recovery from stress and mental fatigue, Landscape Urban Plan

Montessori, M. (1982) The Secret of Childhood, Random House

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