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Sustained Shared Thinking

Warum ist die Banane krumm? – Mit Kindern denken

Prof. Dr. Sabine Hebenstreit-Müller | Januar 2023

Warum ist der Himmel blau? Warum regnet es? Wieso ist Wasser durchsichtig? Warum muss ich in die Schule? Warum sterben Menschen? Wer hat eigentlich die Ferien erfunden? Warum ist es im Sommer heiss und im Winter kalt? Können Tiere auch denken?

Kinder können uns „Löcher in den Bauch“ fragen. „Warum ist die Banane krumm?“ Wir alle kennen diese Pseudo-Frage genervter Erwachsener, die faktisch eine abschließende Antwort sein soll auf all die endlosen Fragen von Kindern. Nachdenken mit Kindern, gemeinsam überlegen, in den Dialog miteinander gehen – all dies ist wünschenswert und wird sicherlich von niemandem in Zweifel gezogen, passiert jedoch im pädagogischen Alltag viel zu selten. Das kann viele Gründe haben: mangelnde Zeit und Ruhe, um ins Gespräch mit Kindern zu gehen, aber auch Gelegenheiten, die nicht gesehen und genutzt werden. Und manchmal fehlt das schlichte Know How, das Wissen darum, wie man’s macht, wie man einen Dialog in Gang setzt, Fragen der Kinder aufgreift und im Gespräch erweitert (siehe auch: Hebenstreit-Müller und Hildebrandt 2022).

Darum soll es im Folgenden gehen.

Zwei Kinder und ein Erzieher untersuchen Moos an einem Stück Holz

Forschen und Denken

Kinder erschließen sich mit Fragen die Welt, die für sie noch unbekannt und neu ist. Sie sind neugierig und voller Forscherdrang. Sie wollen begreifen und verstehen, wie die Dinge funktionieren und warum etwas so ist wie es ist. Dies gelingt am ehesten, wenn es nicht nur vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten für eigenes Tun und Handeln gibt, sondern sie dabei auch in ihrem Verstehen und Nachdenken, über das was sie tun, unterstützt werden. In einer englischen Langzeitstudie zur Qualität von Kindertagesbetreuung, dem EPPE-Projekt (Effective Pre-School and Primary Education Project, Sylva u.a. 2010 a und b) sind die Forscher*innen auf ein interessantes Ergebnis gestoßen. Sie fanden heraus, dass Einrichtungen dann von hoher Wirksamkeit für die kognitive und soziale Entwicklung der Kinder sind, wenn die pädagogischen Fachkräfte im Dialog mit den Kindern Probleme lösen, Ideen austauschen oder sich miteinander über Aktivitäten verständigen. Sie nannten dieses Phänomen „Sustained Shared Thinking“.

Eine Gruppe Kinder untersucht zusammen mit einem Erzieher etwas in der Natur

Schlüsselvariable für erfolgreiche Bildungsprozesse: Sustained Shared Thinking

Was ist das denn nun: Sustained Shared Thinking? Und ist das denn eigentlich so neu, mit Kindern zu reden und in einen Dialog miteinander zu gehen?

Nein. Das ist bekannt, seit es Pädagogik gibt – und nicht erst seit Fröbel, Pestalozzi oder Montessori. Wir verbinden den Dialog mit den Anfängen der Philosophie in Griechenland, vor allem mit Sokrates. Was Sustained Shared Thinking für Pädagog*innen so interessant macht, ist die Tatsache, dass es tatsächlich Effekte hat bezogen auf die kognitive und soziale Entwicklung der Kinder. Und wenn dies so ist, dann kann das für uns nur bedeuten, uns mit diesem Phänomen genauer zu befassen.

Ganz so selbstverständlich wie es auf den ersten Blick scheint, ist es nämlich nicht.

Geht es um das Thema Nachdenken mit Kindern, ist die erste Reaktion von pädagogischen Fachkräften: „Das machen wir doch schon“, „Das ist unser Alltag!“

Das ist nicht zu bestreiten. Pädagogische Fachkräfte interagieren den ganzen Tag über mit Kindern und hier ergeben sich auch immer wieder Gelegenheiten, um miteinander ins Gespräch zu kommen und dabei eigene oder Themen der Kinder aufzugreifen. Aber passiert das auch? Und wie bewusst werden gemeinsame Nachdenkprozesse gestaltet?

Klar: Wer kann sich nicht auch an Situationen erinnern, wo er/sie in einem intensiven Dialog mit einem Kind gestanden hat. Aber wie oft war dies der Fall? Im Alltag von Kitas überwiegen eher oberflächliche Gespräche mit Kindern, häufig kurze Kommentare, Direktiven oder Verhaltensanweisungen. Hier liegt – wie Anke König (2009) in ihrer Studie nachweist – der Fokus der Interaktionen. Auch wenn sich hier schon viel getan hat: Viel zu selten werden Denkprozesse angeregt, gehen pädagogische Fachkräfte in einen Dialog auf Augenhöhe mit den Kindern. Es gibt so viele verpasste Gelegenheiten.

Ein Junge spielt mit Dinosauriern in einem Baum

Warum gibt es heute keine Dinosaurier mehr? Was ist eigentlich ein Traum? Warum müssen Menschen sterben? Das sind Fragen, die nicht einfach mit Ja oder Nein beantwortet werden können – und wo Erwachsene die Antwort auch nicht so einfach wissen können. Im Dialog miteinander nehmen Erzieher*innen und Kinder eine forschende Haltung ein. Ideen und Gedanken werden ausgetauscht. Das stärkt und festigt auch die Beziehung zueinander. Die Erwachsene wird als ernsthafte Gesprächspartnerin gesehen. Eine, die man ernst nimmt. Und umgekehrt genauso (Hebenstreit-Müller 2020).

Definition von „Sustained Shared Thinking“

Sylva u.a. definieren SST folgendermaßen: „Bei sustained shared thinking handelt es sich um eine Situation, bei der zwei oder mehrere Personen intellektuell „zusammenarbeiten“, um ein Problem zu lösen, ein Konzept zu verstehen, Tätigkeiten zu beurteilen, eine Geschichte weiterzuentwickeln usw. Beide Parteien tragen zu dem Denkprozess bei, er wird von beiden entwickelt und erweitert“ (Sylva u.a. 2010a, 21, Hervorhebung im Original). Versuchen wir einmal, die Definition „auseinanderzunehmen“, um uns anzuschauen, was alles darin enthalten ist (dazu auch Brodie 2014, 3ff.):

  • „Eine Situation, bei der zwei oder mehrere Personen intellektuell ‚zusammenarbeiten‘ …“ Mindestens zwei Personen, häufig auch mehrere, sind beteiligt. Sie arbeiten zusammen, d.h. sie begegnen sich auf Augenhöhe, nehmen sich wechselseitig ernst, hören sich zu. Der Fokus liegt dabei auf der intellektuellen Zusammenarbeit.
  • „… um ein Problem zu lösen, ein Konzept zu verstehen, Tätigkeiten zu beurteilen, eine Geschichte weiterzuentwickeln usw. …“ Es geht um gemeinsames Denken, um Kognition, um den Austausch von Ideen und Argumenten.
  • „Beide Parteien tragen zu dem Denkprozess bei …“ Dies unterstreicht die Gleichwertigkeit aller Beiträge, die der Erwachsenen oder der Kinder; sie bringen sich gleichermaßen und mit ihren jeweiligen Perspektiven, ihrem Wissen und ihren Erfahrungen in den Nachdenkprozess ein.
  • „… er wird von beiden entwickelt und erweitert“ Fragen werden gemeinsam erweitert, an Wissen angeknüpft und dieses auf neue Situationen übertragen.

Sustained Shared Thinking, dies zeigt sich deutlich, stellt hohe Anforderungen an die Zusammen-Arbeit mit Kindern im pädagogischen Alltag.

Die Art und Weise, in der pädagogische Fachkräfte mit den Kindern interagieren, bedarf jedoch einer Ausformulierung, um im Konzept verankert werden zu können – und damit auch vermittelt und in der Praxis gemeinsam reflektiert werden zu können. Es reicht nicht, Dinge richtig zu tun. Man muss es auch sagen und aufschreiben, damit es zum Konzept gehört und „kleingearbeitet“ wird in praktisches Know How.

All diese Fähigkeiten lassen sich in Aus-, Fort- und Weiterbildungen erwerben und einüben. Das eigene professionelle Handeln kann unter diesen Gesichtspunkten reflexiv überprüft werden.

In Weiterbildungen habe ich die Teilnehmer*innen gebeten, diejenigen Punkte der Auflistung zu markieren, die Teil ihrer täglichen Praxis sind und mit denen sie sich vertraut und sicher fühlen. In erster Linie waren dies die Fähigkeiten im Beziehungsbereich, eher selten Fragen und Denkanstöße, die auf einen intellektuellen Austausch zielen.

Es geht bei Sustained Shared Thinking um gemeinsames Denken, um Kognition, um den Austausch von Ideen und Argumenten. Das fällt im pädagogischen Alltag nicht immer leicht. Erzieher*innen gelingt es weit eher, eine positive und unterstützende Atmosphäre aufzubauen als mit Kindern in einen intellektuellen Austausch zu gehen. Dazu gehört nicht zuletzt auch, ein eigenes Interesse zu haben an Fragen, auf die man selbst erst einmal so recht keine Antwort weiß.

Wenn ich in diesem Zusammenhang von Dialog spreche, dann will ich damit auf die besondere Qualität des gemeinsamen Nachdenkens hinweisen. Ein echter Dialog im Sinne Martin Bubers benötigt den Verzicht auf Machtspiele und erfolgt auf Augenhöhe zwischen allen Beteiligten (Buber 2014). Zweifelsohne kann dieser auch im Nachdenken nicht nur von zwei, sondern mehreren Kindern miteinander und mit mehreren Erwachsenen stattfinden. Diesen möglich zu machen, ist die pädagogische Aufgabe.

Gelegenheiten im pädagogischen Alltag nutzen

Sustained Shared Thinking ist keine verklausulierte Formel, die Praktiker*innen mit nicht einlösbaren Ansprüchen überhäuft. Vielmehr geht es um beschreibbare Fähigkeiten (s.o.) und das Finden von Gelegenheiten, um sich einzubringen in das kindliche Spiel, Anknüpfungspunkte finden, um Gedanken und Ideen auszutauschen. Manchmal reichen wenige Minuten aus, um ins Gespräch zu kommen. Die Kinder signalisieren deutlich, wann sie „genug“ haben. Weder das Kind, noch der Erwachsene steht unter Druck, das Gespräch auszudehnen, wenn eine Seite womöglich das Interesse verloren hat. Denken macht Spaß. Dazu braucht es aber eine Leichtigkeit und etwas Spielerisches, das sich nur in einer entspannten Situation realisieren lässt.

Es lassen sich viele Situationen denken, die für Dialoge genutzt werden können: gemeinsame Mahlzeiten, Waschen, Anziehen, Spazierengehen oder Buddeln im Sandkasten. In den Hosentaschen-Dialogen von Elske und Frauke Hildebrandt finden sich viele Ideen, wie sich aus solchen alltäglichen Situationen Anlässe zum Spekulieren, Analysieren oder Forschen ergeben können: „Was wäre, wenn aus dem Wasserhahn Saft kommen würde? „Was denkst du, warum bekommen wir eigentlich Hunger?“ „Was wäre, wenn der Himmel grün wäre? “ (vgl. Hildebrandt 2014).

Es kann aber auch der Morgenkreis sein, in den Nachdenkgespräche integriert werden. Die Kinder können aufgefordert werden, ein ganz anderes Ende einer Geschichte „auszuspinnen“. Oder sie lassen ihrer Fantasie freien Lauf, indem sie die Motive auf Würfeln, den „Story Cubes“, zu Geschichten verbinden.

Mit den Kindern in einen Dialog zu gehen, ist Teil des pädagogischen Alltags und keine Sonderaufgabe, die „zusätzlich“ geleistet werden muss. Es kommt darauf an, die Gelegenheiten dafür zu entdecken und zu nutzen. Kognitiv anregende Interaktion ist kein zusätzliches „Programm“, das in den Kitaalltag eingebaut werden müsste. Es setzt vor allem eine andere Haltung und ein Umdenken voraus, Gelegenheiten, in denen man ohnehin im Kontakt mit den Kindern ist, zu nutzen für ein gemeinsames Nachdenken. Dafür reichen zumeist wenige Minuten.

Das heißt auch: Die pädagogische Fachkraft wartet nicht nur ab, ob und welche Initiativen vom Kind kommen. Sie bringt sich selber aktiv ein, zeigt Interesse, Neugier und formuliert ihre eigenen Vorstellungen.

Wie Lynn McNair betont, ist es wichtig, dass Erwachsene Gelegenheiten erkennen und nutzen, mit eigenen Ideen und Anregungen das Spiel des Kindes bereichern (McNair 2012).

Eine Erzieherin spielt mit zwei Mädchen an einem Tisch im Freigelände

Mit Fragen der Kinder umgehen

Eine Art Denk-Werkzeug, mit dem Pädagog*innen in den Dialog mit Kindern gehen können, schlagen Hildebrandt und Dreier vor. Am Beispiel „Warum fliegt der Käfer nicht weg?“ lässt sich dies veranschaulichen (Hildebrandt und Dreier 2014). Der Einstieg besteht aus drei Schritten:

  1. Kinderfrage würdigen „Das ist eine gute Frage“
  2. Eigene Vermutung aufstellen „Ich vermute, dass…“
  3. Frage zurückgeben „Und was meinst du?

Die drei Schritte folgen einer ganz bestimmten Logik. Zunächst geht es darum, die Frage des Kindes zu würdigen und ihm zu signalisieren: Ich finde die Frage auch interessant und wichtig. Der zweite Schritt wird häufig übergangen, ist jedoch von großer Bedeutung. Indem er/ sie eine eigene Hypothese entwickelt, zeigt sich der/die Erwachsene als Partner*in im Denken. Er/sie zeigt dem Kind auf diese Weise, dass er/sie mitdenkt und Interesse am Thema hat. Es geht nicht darum, das Kind abzufragen, sondern mit ihm gemeinsam nachzudenken. Die Frage „Und was meinst du? erhält so für das Kind die Aufforderung, seinerseits Überlegungen zum Sachverhalt anzustellen.

Manchmal entsteht daraus ein längerer Dialog. Aber selbst, wenn dieser nur wenige Minuten dauert: Das Kind hat damit einerseits die Erfahrung gemacht, dass seine Fragen wichtig sind und ernst genommen. Zudem erlebt es die pädagogische Fachkraft als ihrerseits interessierte Dialog-Partnerin.

Hilfreich für einen Einstieg kann das Bilderbuch von Antje Damm sein, das ausschließlich Fragen zu Bildern enthält und das auffordert zu gemeinsamem Nachdenken. Daran können sich zugleich mehrere Kinder beteiligen, die auch miteinander in den Dialog gehen.

Voraussetzung für gelingende Nachdenk-Gespräch ist eine kindzentrierte Pädagogik, die das individuelle Kind in den Blick nimmt, seine Interessen aufgreift und unterstützt. Nur wenn Kinder sich geborgen und gesehen fühlen (Hebenstreit-Müller 2016), sind sie auch bereit, sich auf andere einzulassen und ihre Gedanken „loszulassen“.

Eine Erzieherin unterhält sich während eines Ausflugs mit zwei Kindern

Literatur

Brodie, Kathy (2014). Sustained Shared Thinking in the Early Years. Linking theory to practice. Routledge

Buber, Martin (2014). Elemente des Zwischenmenschlichen. In: Das dialogische Prinzip, Gütersloher Verlagshaus, 13. Auflage

Clarke, Jenni (2007). Sustained Shared Thinking. London

Hebenstreit-Müller, Sabine und Hildebrandt, Frauke (2022) (Hg.). Denken lernen. Erkenntnisse und Anregungen zum Denken mit jungen Kindern. Berlin: WAMIKI

Hebenstreit-Müller, Sabine (2020).Was wäre, wenn der Himmel grün wäre?. Nachdenken mit Kindern. In: Kindergarten heute, 6/7 2020

Hebenstreit-Müller, Sabine (2018). Mit Kindern nachdenken – Warum Selbstbildung nicht ohne pädagogische Anregung geht. In: Hebenstreit-Müller, Sabine und Hildebrandt, Frauke (Hrsg.). Mit Kindern denken – Gespräche im Kita-Alltag. Berlin: Dohrmann Verlag

Hebenstreit-Müller, Sabine (2016) (Hg.). Beobachten und Talente entdecken – Die Bedeutung von Wohlbefinden und Engagiertheit in der pädagogischen Arbeit mit Kindern in der Grundschule. Berlin: Dohrmann Verlag

Hildebrandt, Elske und Frauke (2014). Hosentaschen-Dialoge. Dialoge mit Kindern im Kita- Allt5ag. Version Verlag

Hildebrandt, Frauke, Dreier, Annette (2014). Was wäre wenn…? Fragen, nachdenken und spekulieren im Kita-Alltag. Berlin: Verlag das Netz

König, Anke (2009). Interaktionsprozesse zwischen ErzieherInnen und Kindern. Eine Videostudie aus dem Kindergartenalltag. Wiesbaden: VS Verlag

McNair, Lynn (2012). Offering children first-hand experiences through forest school: relating to and learning about nature. In: Bruce, Tina: Early Childhood Practice. Froebel today. London: Sage

Sylva, K., Taggart, B. u.a. (2010a). Frühe Bildung zählt. Das Effective Pre-school and Primary Education Projekt (EPPE) und das Sure Start Programm. Berlin: Dohrmann Verlag

Sylva, K., Melhuish, Edward, Sammons, Pam, Siraj-Blatchford, Iram, Taggart, Brenda (2010b) (Hg.). Early Childhood Matters. Evidence from the Effective Pre-school and Primary Education project. Routledge

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