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Feinmotorik entwickeln als Voraussetzung zum Schrifterwerb

Wie Kinder sich spielend auf die Einschulung vorbereiten können

Christy Isbell | Mai 2024

Ein Kind spielt mit einer Spielzeugeisenbahn aus Holz

Kleine Kinder sind von Natur aus neugierig. Sie lernen die Welt kennen, indem sie mit Gleichaltrigen interagieren und Materialien mit ihren Händen erforschen. In den ersten Lebensjahren entwickeln Kinder manuelle Fähigkeiten (Feinmotorik der Hände), die sie für den Rest ihres Lebens benötigen, um erfolgreich zu sein. Sie lernen auch, ihre Hände zu nutzen, um für sich selbst zu sorgen, z. B. sich selbst anzuziehen und zu essen.

Es gibt die gängige Ansicht, dass in Kita und Vorschule das Schreibenlernen im Mittelpunkt der feinmotorischen Aktivitäten stehen sollte. Aber kleine Kinder brauchen eine große Bandbreite an Aktivitäten, bei denen sie ihre Feinmotorik einsetzen können. Im Sitzkreis oder bei Gruppenaktivitäten kann ein Kind seine Hände benutzen, um zur Musik zu klatschen, Fingerspiele zu machen oder auf ein Bild zu zeigen. Beim Spielen kann es seine Hände benutzen, um Verkleidungen anzuziehen, eine Puppe zu waschen, die Seiten eines Buches umzublättern, Bausteine zu stapeln, seine Familie zu zeichnen, mit einer Schere zu schneiden oder Spielzeug aufzuheben. Beim Essen kann es seine Hände benutzen, um ein Stück Obst zu schälen, Milch einzugießen und aus einem Becher zu trinken. Kurz gesagt, ein qualitativ hochwertiger Gruppenraum bietet einem kleinen Kind viele Gelegenheiten, seine feinmotorischen Fähigkeiten auf für das Kind selbst bedeutungsvolle Weise zu entdecken und entwickeln.

Kinder brauchen tägliche Erfahrungen mit entwicklungsgerechten feinmotorischen Aktivitäten, um das Selbstvertrauen und die Fähigkeiten aufzubauen, die sie später im Leben brauchen werden (Bredekamp & Copple 2009). Die Erziehungskräfte sollten den Kindern ausreichend Gelegenheit bieten, mit ihren Händen zu zeichnen, schneiden, kleben, auffädeln und mit Gegenständen zu hantieren. In der Grundschule können die Kinder ihre feinmotorischen Fähigkeiten weiter verbessern, wenn sie lernen zu schreiben, mit Computertastaturen umzugehen und an wissenschaftlichen Experimenten und komplexeren Kunstprojekten teilnehmen.

Zwischen dem Säuglingsalter und dem siebten Lebensjahr entwickeln Kinder mehr feinmotorische Fähigkeiten als in irgendeiner anderen Lebensphase. Besonders die Jahre vor der Einschulung sind für die motorische Entwicklung von entscheidender Bedeutung. Es ist wichtig, dass Kinder im Alter von 2 bis 5 Jahren ihre Zeit in gut gestalteten Lernumgebungen verbringen, die reichlich Gelegenheit zum Erkunden und Spielen bieten. Im Gruppenraum interagieren Kinder mit Erziehungskräften, Gleichaltrigen, Gegenständen und Materialien. Viele dieser Interaktionen können beeinflussen, wie viel Gelegenheit ein Kleinkind hat, seine feinmotorischen Fähigkeiten zu entwickeln.

Kinderhände, die etwas aus Wäscheklammern und Eisstielen bauen

Grundlagen der Feinmotorik

Einige Schulen und Familien drängen darauf, dass Kinder mit formalen Schreibübungen (Buchstaben schreiben) beginnen, bevor sie von ihrer Entwicklung her dazu bereit sind. Drei- und vierjährige Kinder sollten mehr Zeit mit manipulativem Spiel verbringen als Schreiben zu üben. Wenn Familien oder Bildungseinrichtungen kleine Kinder zum Schreiben drängen, bevor ihre Hände ausreichend entwickelt sind, kann es das Interesse der Kinder, sich schriftlich auszudrücken, verringern. Darüber hinaus fällt es Vorschulkindern, die noch nicht die Vorläufer für höhere feinmotorische Fähigkeiten entwickelt haben, schwerer, einen Stift oder Füller richtig zu greifen, ihre Handschrift ist häufiger unleserlich und langsam (Bredekamp & Copple 2009; Exner 2005; Henderson & Pehoski 2006).

Kleine Kinder sollten einige grundlegende feinmotorische Fähigkeiten beherrschen, bevor sie anspruchsvollere feinmotorische Aktivitäten wie Schwungübungen und Schneiden mit einer Schere in Angriff nehmen. Hier ist eine Liste dieser wichtigen Vorläufer:

Entwicklungsreife

Das Bauen, Stapeln und Zusammensetzen von Dingen fasziniert kleine Kinder. Sie beginnen, Formen und Größen zu verstehen und zwischen dem „Teil“ und dem „Ganzen“ zu unterscheiden. Aktivitäten, die Kindern die Möglichkeit geben, mit Bausteinen und ähnlichen Gegenständen zu bauen und zu konstruieren, helfen ihnen, sich entwicklungsmäßig auf Aktivitäten wie Zeichnen, Schneiden und Fädeln vorzubereiten.

Ein Kleinkind stapelt Mini-Einheitsbausteine

Gute Körperhaltung/Balance

Feinmotorische Aktivitäten fallen einem Kind leichter, wenn es gerade sitzt und die Füße fest auf dem Boden hat. Ein Kind sollte in der Lage sein, sich voll und ganz auf seine feinmotorische Aufgabe zu konzentrieren, anstatt sich Sorgen zu machen, vom Stuhl zu fallen. Das Kind sollte in der Lage sein, seine Arme zu benutzen, um mit Gegenständen zu hantieren, anstatt sich am Tisch festhalten zu müssen.

Schulterstärke

Die Kraft, die ein Kind in seinen Schultern hat, bietet ihm eine stabile Grundlage für die Funktion der Hände. Kleine Kinder, die nicht regelmäßig an grobmotorischen Aktivitäten wie Klettern, Krabbeln, Schieben und Ziehen teilnehmen, entwickeln möglicherweise nicht ausreichend Kraft im Oberkörper. Wenn diese Kinder feinmotorische Aktivitäten ausprobieren, können ihre Arme und Hände zittrig und unkoordiniert sein, weil sie ihre Schultern nicht ruhig und gerade halten können.

Greifen

Ein Kind sollte in der Lage sein, ein Schreibwerkzeug (z. B. einen Wachsmalstift, Filzstift oder Bleistift) zu halten, bevor es Schwungübungen macht. Der Griff des Kindes sollte stark genug sein, um das Schreibgerät fest zu halten, aber flexibel genug, um es über das Papier zu bewegen. Wie stark und gut ein Kind greifen kann, wird sich im Laufe der Zeit entwickeln. Während die meisten Dreijährigen einen Buntstift mit allen Fingern halten, verwenden die meisten Fünfjährigen dazu Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Wenn sie die 1. Klasse erreichen können fast alle Kinder, die sich altersgemäß entwickeln, ihr Schreibgerät gut halten.

Unterarm- und Handgelenkkontrolle

Um effektiv an feinmotorischen Aktivitäten teilnehmen zu können, sollte ein Kind in der Lage sein, seinen Unterarm so zu drehen, dass seine Handfläche erst nach oben und dann nach unten zeigt. Die Fähigkeit eines Kindes, seine Finger zu bewegen, ohne dass sich das Handgelenk mitbewegt, ist besonders wichtig für Aktivitäten wie Schneiden, Schnüren oder Fädeln. Diese Vorläufer feinmotorischer Reife verbessern sich dramatisch zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr.

Beidseitiger Handgebrauch

Die koordinierte Verwendung beider Hände zum Ausführen einer Aktivität ist für die erfolgreiche Teilnahme an feinmotorischen Übungen unerlässlich. Im Alter von drei Jahren sollte ein Kind lernen, einen Gegenstand mit einer Hand still zu halten während es die andere Hand bewegt. Zum Beispiel sollte ein Kind in der Lage sein, ein Blatt Papier mit einer Hand festzuhalten und mit der anderen Hand auf diesem Papier zu zeichnen. Im Alter von fünf Jahren sollte ein Kind beginnen, die wechselseitige Verwendung von Händen zu entwickeln, bei der es mit einer Hand schneiden und mit der anderen Hand das Papier wenden kann, um große, einfache Formen herzustellen.

Auge-Hand-Koordination

Bei der kindlichen Entwicklung spielt die enge Verzahnung von Sehvermögen und Feinmotorik eine bedeutende Rolle. Das Kind muss in der Lage sein, sein Sehvermögen zu nutzen, um die Bewegungen von Schulter, Ellbogen, Handgelenken und Fingern zu koordinieren, wenn es lernt, ein neues Werkzeug zu benutzen oder an einer neuen feinmotorischen Aktivität teilzunehmen. 

Ein kleines Kind, das ein Band mit einer Schere zerschneidet

Entwicklung der Feinmotorik

Kinder im Vorschulalter entwickeln ihre Feinmotorik durch das Spielen mit geeigneten Materialien und Gegenständen. Sie lernen auch durch Wiederholung und Experimentieren. Eine Lernumgebung mit einer Vielzahl von verwendungsoffenen Materialien wie Papier, Zeichenutensilien, Klebstoff, Ton und kleinen Bausteinen bietet einem Kind eine Fülle von Möglichkeiten, ihren eigenen Forscherfragen zu folgen. Kinder, die ihr Wissen selbst konstruieren und auf ihrem eigenen Niveau lernen können, sind stärker in den Lernprozess eingebunden und besser in der Lage, ihre feinmotorischen Fähigkeiten zu entwickeln.

Mit vier Jahren beginnen viele Kinder, mehr Zeit mit dem Entwerfen eigener Formen und Zeichnungen zu verbringen, anstatt zu imitieren und nachzumalen. Während dieser Phase kann ein Kind mit einem leerem Blatt Papier und verschiedenen Schreibutensilien neue Fähigkeiten einüben, die als Vorläufer zum späteren Schreiben fungieren. Erziehungskräften könnten die Ideen, die Kindern ihnen diktieren, zu Papier bringen. Das Bild eines Kindes zu beschriften oder seine Geschichte aufzuschreiben, ist eine tolle Möglichkeit, die Buchstabenbildung zu demonstrieren.

die Hände eines Kindes formen einen Klumpen Ton

Im Alter von fünf Jahren sind einige Kinder bereits in der Lage, mit dem Schreiben zu beginnen. Für die meisten Kinder besteht der Anfang darin, dass sie ihren Vornamen schreiben. Einige Kinder werden daran interessiert sein, Buchstaben zu schreiben, die nicht auf ihren Namen lauten und beginnen vielleicht, phonetisch zu schreiben. Kleine Kinder sollten die Möglichkeit haben, sich auf Papier auszudrücken. Ein Tagebuch oder ein Buch zu schreiben, kann für Schreibanfänger sehr lernfördernd sein. Der beste Weg, die handschriftlichen Fähigkeiten eines Kindes zu fördern, besteht darin, eine Umgebung zu schaffen, in der die Lese- und Schreibkompetenz eines Kindes generell gefördert wird – eine Umgebung, die ihm eine Vielzahl von Möglichkeiten bietet, zuerst die Vorstufen des Schreibens zu beobachten, auszuprobieren und zu meistern und dann mit dem Schreiben von Buchstaben zu beginnen.

Wenn ein kleines Kind an einem Angebot teilnimmt, das ihm hilft, seine feinmotorischen Fähigkeiten zu entwickeln, ist das Ergebnis dieser Aktivität weniger wichtig als der Prozess selbst. Ein Kind im Vorschulalter muss die Freiheit haben, sich durch die Auseinandersetzung mit neuen Materialien auszudrücken, z. B. beim Schreiben, Malen und Basteln. Zum Beispiel, wenn man einem vierjährigen Kind ein leeres Blatt Papier, eine Auswahl an verschiedenen Pinseln und einen Wasserfarbkasten gibt, bietet dies dem Kind bessere Möglichkeiten, seine Feinmotorik zu verbessern, als wenn man ihm ein Malbuch und Wachsmalstifte gibt. Jedes Kind drückt sich anders aus. Wenn eine Gruppe von Kindern im Vorschulalter eine feinmotorische Aktivität abschließt, sollten ihre Ergebnisse nicht alle identisch aussehen. An der Vielfalt in den fertigen Arbeiten zeigt sich, ob die pädagogischen Fachkräfte die Kinder dazu ermutigen, als einzigartige Individuen an feinmotorischen Aktivitäten teilzunehmen – das ist der entwicklungsgerechte Ansatz.

Das Handschreiben ist eine wichtige Kompetenz, die die meisten Kinder schon in den Jahren vor der Einschulung zu erlernen anfangen. Es ist jedoch wichtig, Kinder nicht zu drängen, an Schreibübungen teilzunehmen, die sie körperlich, geistig und kognitiv überfordern. Ein Kind, das sich als Versager empfindet, kann das Interesse daran verlieren, seine Ideen schriftlich auszudrücken, oder es entwickelt schlechte Schreibgewohnheiten, die es sein ganzes Leben lang begleiten werden.

zwei Kinder spielen mit Holzfiguren

Kinder lernen Feinmotorik am besten, indem sie an Spielen und Alltagsaktivitäten teilnehmen, die ihrem Entwicklungsniveau entsprechen. Das gesamte frühpädagogische Umfeld, einschließlich der pädagogischen Fachkräfte, der Gleichaltrigen und der Lernumgebung, hat einen erheblichen Einfluss auf die feinmotorische Entwicklung eines Kindes. Wenn wir die Entwicklungsschritte verstehen, die Kinder typischerweise durchlaufen, können wir als pädagogische Fachkräfte dazu beitragen, dass jedes Kind sich feinmotorisch gut entwickelt.

Literaturhinweise

Bredekamp, S. & Copple, C. (Hrsg.) (2009). Developmentally appropriate practices in Early Childhood Programs. Washington, DC: National Association for the Education of Young Children.

Exner, C. E. (2005). Development of Hand Skills.  In J. Case-Smith (Hrsg.), Occupational Therapy for children. (304-355). St. Louis, MO: Elsevier.

Henderson, A. & Pehoski, C. (Hrsg.) (2006). Hand function in the child: foundations for remediation. St. Louis, MO: Mosby.

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