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Das Lernpotential in losen Teilen

Heather Fox, Susie Wirth | März 2017

In einer Welt, in der wir unsere jüngste Generation auf heute noch unbekannte Berufe vorbereiten, kommt es vor allem darauf an, bei den Kindern die Neugierde und Lust aufs Lernen anzuregen. Diese Liebe zum Lernen sowie die nötigen Fähigkeiten zur Verständigung, Problemlösung und Selbstkontrolle sind der Schlüssel zum späteren Erfolg im Leben – egal in welchem Beruf. Manche glauben, dass sich solche Fähigkeiten nur am Schultisch in einem typischen Klassenzimmer erwerben lassen, doch die Forschung der Dimensions Educational Research Foundation legt nahe, dass Kinder in gut gestalteten, naturverbundenen Freiluft-Räumen Fähigkeiten in sämtlichen Lernbereichen dazugewinnen (Miller 2007).

children playing with natural loose parts

Diese Ergebnisse beruhen auf der mehr als zehnjährigen Forschungsarbeit der Dimensions Foundation in „Nature-Explore“-Gruppenräumen in den USA. Sie ergänzen die immer eindeutigeren Belege dafür, dass für kleine Kinder Spielen dasselbe ist wie Lernen und dass gut durchdachte Außenräume hochwirksame Umgebungen für das Wachstum und die Weiterentwicklung der Kinder bieten. Was also unterscheidet ein Freiluft- von einem traditionellen Gruppenraum? Zum einen die Verfügbarkeit der „losen Teile“ der Natur.

Beispiele für solche losen Teile sind:

  • Knorrige Äste
  • Tannenzapfen
  • Muscheln
  • Flaschenkürbisse
  • Interessante Samenschoten
  • Blätter
  • Stöcke
  • Baumstamm-Scheiben
  • Baumstümpfe
  • Steine

Die losen Teile der Natur fördern komplexeres Spielen

Der Begriff „lose Teile“ wurde vom Architekten Simon Nicholson geprägt, um Materialien mit verschiedenartigen Eigenschaften zu beschreiben, die sich auf vielerlei Weise handhaben und verändern lassen. Nach seiner Theorie hängt die Reichhaltigkeit einer Umgebung davon ab, wie stark die Menschen mit ihr in Wechselwirkung treten und Verbindungen knüpfen können. Von Fachkräften für frühkindliche Erziehung wurde dies bestätigt: Wenn Kinder mit losen Teilen erfinden, kreieren, entdecken und neu anordnen können, lernen sie ungemein viel.

So können sich zum Beispiel Muscheln beim Spielen ohne genaue Anleitung – d. h. nur von der kindlichen Phantasie inspiriert – wahlweise in eine Kollektion, in Sandschaufeln oder in Untertassen verwandeln. Als weitere Illustration für die Notwendigkeit von offen gestaltbarem Material für Kinder erklärte Joan Almon, die ehemalige Direktorin von Alliance for Childhood, dass gutes Kinderspielzeug eigentlich nur zu 10% aus Spielzeug und zu 90% aus Kind bestehen sollte (zitiert nach Linn, 2008).

Wenn Kinder dazu ermutigt werden, aus losen Teilen eigene Ideen zu entwickeln, beginnen sie zu lernen. Sie stellen nicht nur eigene Fragen, sondern entwickeln auch eigene Antworten und entdecken neue Möglichkeiten. Außerdem entwickelt sich das Spiel mit losen Teilen mit den wachsenden Kompetenzen des Kindes weiter (Daly und Beloglovsky, 2015), was Gelegenheiten zu verschiedenartigen kreativen Arten der Problemlösung bietet.

Die natürliche Umgebung bietet den Kindern in all ihrer Einfachheit und Komplexität eine Vielfalt von Erfahrungen zum Spielen und Lernen. Die Natur erzeugt auf organische Weise ein breites Spektrum von losen Teilen mit Mustern und Sequenzen, die sich mit künstlichem Material nicht einfach nachahmen lassen – man denke nur an die verschlungenen Muster eines Tannenzapfens oder die Spiralen eines sich öffnenden Farns. Ebenso bemerkenswert ist Baumrinde mit ihrer Vielfalt von Texturen und den zahlreichen Insekten, denen sie ein Zuhause bietet. Diese Zusammenhänge lassen sich auf praxisnahe Weise – wie es für Kinder zum Lernen am besten ist – entdecken, überprüfen und verstehen. Dank ihres höheren Maßes an Komplexität und Vielfalt bietet die Natur Materialien für längeres und komplexeres Spielen (White und Stoecklin, 2014).

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Eine natürliche Umgebung für lose Teile

Für viele unserer Kinder – vor allem mit wenig Erfahrung im Freien – kann wilde, unberührte Natur anfangs etwas überwältigend wirken. In einer geordneteren und einfacher zugänglichen Naturumgebung fühlen sich die Kinder sicherer, wenn sie die Welt über die losen Teile der Natur entdecken. Hinzu kommt die schlichte Tatsache, dass völlig naturbelassene Umgebungen an den Orten, wo sich die meisten Kinder überwiegend aufhalten, nicht einfach zu finden sind. Ein täglich nutzbarer, mit Natur gefüllter Außenspielbereich führt zu grundlegenden Veränderungen im Verhalten der Kinder und in ihrer Einstellung zur Natur.

Die Dimensions Foundation hat untersucht, welche Merkmale eines Außenbereichs zur Förderung der frühkindlichen Entwicklung optimal sind. Aus den Ergebnissen geht hervor, dass die Welt der Natur eine einzigartige und wirkungsvolle Umgebung zum Lernen bietet. Wir haben festgestellt, dass sich Kinder regelmäßig miteinander austauschen und ganzheitlich weiterentwickeln, wenn der Raum wie folgt beschaffen ist:

  1. klar abgegrenzt, um verschiedene Fähigkeitsstufen und Interessen zu fördern,
  2. für Kinder nachvollziehbar aufgebaut,
  3. mit zum Entdecken einladenden losen Teilen und Werkzeugen der Natur ausgestattet und
  4. von fürsorglichen Erwachsenen begleitet, die diesen Erfahrungen einen Rahmen verleihen.

In einer Direktbeobachtung der Aktivitäten von Kindern in den „Nature-Explore“-Gruppenräumen ließ sich eine verbesserte Entwicklung der Fähigkeiten in den Bereichen Naturwissenschaft, Mathematik, Sprachen, Lesen, Musik, Bewegung, Kunst, visuell-räumliches Denken und soziale Kompetenz nachweisen. Diese Studien wurden in mehreren „Nature-Explore“-Gruppenräumen durchgeführt, die sich hinsichtlich ihrer Umgebung, Einwohner und demografischen Merkmale stark voneinander unterschieden, aber durch bemerkenswert ähnliche Ergebnisse auszeichneten. Zwei der wichtigsten langfristigen Ergebnisse dieser Forschung waren die Wichtigkeit von gut gestalteten Naturräumen und der Wert der losen Teile der Natur.

In einer Studie über die Nutzung von natürlichen Freiluft-Gruppenräumen (2014) stellte Dr. Samuel Dennis  fest, dass Kinder an solchen Orten sowohl durch die natürliche als auch durch die strukturelle Umgebung beim Spielen unterstützt werden: „Die Natur bietet bei weitem mehr Hilfsmittel und Gelegenheiten zum offenen Spielen als Spielplätze mit fest installierten Geräten auf großen Flächen mit Sicherheitsboden. Kinder in natürlichen Umgebungen waren entspannter, konzentrierter, engagierter, kooperativer, kreativer, fürsorglicher und glücklicher als Kinder in Innenräumen oder auf traditionellen Spielplätzen. Naturbelassene frühkindliche Lernumgebungen boten den Kindern die Gelegenheit, den Wechsel der Jahreszeiten kennenzulernen und den Lebenszyklus von Pflanzen, Tieren und Insekten zu beobachten, und stellten ihnen natürliche Materialien zum Entdecken und Spielen zur Verfügung.“

Zum weiteren Verständnis der Umgebung und Materialien, die von den Kindern im „Nature-Explore“-Gruppenraum genutzt werden, hilft es zu überlegen, wie das kindliche Spiel von den Eigenschaften natürlicher Materialien beeinflusst wird. Diese Eigenschaften werden im Kontext der von ihnen gebotenen Möglichkeiten beschrieben. Beispiele hierfür wären: „Wenn ein großer Stein eine glatte und ebene Oberfläche hat, ist er eine Sitzgelegenheit; wenn ein Baum viele Äste hat, kann man auf ihn klettern“ (Lester und Maudsley, 2007, S. 27). Im Wesentlichen versetzen diese Möglichkeiten die Kinder in die Lage, die Eigenschaften des Materials mit ihrem eigenen Verhalten abzugleichen (Bohling, Saarela und Miller, 2010).

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Entwicklung von Fähigkeiten mit den losen Teilen der Natur und Unterstützung durch Erzieher

Aus der Forschung der Dimensions Foundation geht hervor, dass die Kombination von gut durchdachten Räumen und reichlich naturbelassenen Materialien den Kindern die Möglichkeit bietet, ihr Weltwissen auf einzigartige Weise unter Beweis zu stellen. In unseren Studien stellten wir fest, dass die Nutzung von vielen verschiedenen natürlichen Materialien die Weiterentwicklung eines breiten Spektrums von Fähigkeiten ermöglichte. Die Kinder nutzten in den „Nature-Explore“-Gruppenräumen eine Vielzahl von offen gestalteten losen Teilen. Dies förderte die Problemlösung, Fantasie und Kreativität in einer Weise, die auf einem traditionellen Spielplatz oder in Innenräumen wahrscheinlich nicht möglich gewesen wäre. Wenn die Kinder auf überlegte Weise natürliche Materialien als Requisiten für ihre Rollenspiele auswählten, kam es zu anspruchsvollen kritischen Denkprozessen. Wie anders wäre ihr Spiel ausgefallen, wenn sie diese Materialien nicht gehabt hätten oder wenn die Erzieher ihnen zum Beispiel vorgefertigte Requisiten gegeben hätten, die sie nicht zu dieser Art von intellektuellem und phantasievollem Denken angeregt hätten.

In den „Nature-Explore“-Gruppenräumen ist das Spielen im Freien nicht länger eine Zeit, in der das Erziehungspersonal in den Hintergrund tritt, nicht am Geschehen teilnimmt und nur aus der Ferne beaufsichtigt. Stattdessen wird der Freiluft-Gruppenraum zu einem zielgerichteten Raum zum Lehren und Lernen von Themen aus dem gesamten pädagogischen Konzept, was schon an anderen Standorten dokumentiert wurde (Thompson und Thompson, 2007).

In gut gestalteten Freiluft-Gruppenräumen haben Kinder die Möglichkeit, einfache Gegenstände in komplexe Objekte für die verschiedensten Zwecke zu verwandeln. Warum ist diese Art von symbolischem Denken (d. h. kreativer Repräsentation) so wichtig? Nach Ansicht von Hirsh-Pasek und Golinkoff (2003) liegt die entscheidende Bedeutung darin, dass die Kinder ihre Fähigkeit weiterentwickeln müssen, über die konkret vor ihnen liegenden Gegenstände hinaus zu denken und zu lernen, neue Ideen auf kreative Weise miteinander zu kombinieren: „Gegenstände so zu behandeln, als wären sie etwas anderes, steht am Anfang dieser wichtigen Fähigkeit. Und die Fähigkeit, Gegenstände auf symbolische Weise zu nutzen und sie etwas anderes sein zu lassen als sie wirklich sind, hängt mit dem Sprachprozess der Kinder zusammen“ (S. 209). Die Forscher Talbot und Frost legen darüber hinaus nahe, dass Kinder, „wenn ein Gegenstand oder Ort auf vielerlei Weise interpretiert und genutzt werden kann, [...] die Macht haben zu sagen, was er sein oder tun soll“, statt eine „vorgeformte ,richtige‘ Sichtweise“ zu erhalten (zitiert von Hohmann und Weikart, 1995, S. 111).

Dana Miller (2007) fasst die Aussagen von Dimensions Research über den Wert von natürlichen losen Teilen so zusammen:

Unsere Forschung führte zu überzeugenden Belegen dafür, dass offen gestaltete, natürliche Materialien die Fantasie, die Kreativität und das symbolische (abstrakte) Denken der Kinder fördern. Beim Arbeiten mit offen gestalteten Materialien können die Kinder entscheiden, was aus diesen Materialien wird, interessante Methoden zur Veränderung der Materialien erkunden und erfahren, wie sich ihre Nutzung dieser Materialien während eines Rollenspielszenarios ändern kann. Die Kinder beginnen, zur Darstellung ihrer Idee genau das richtige Material oder Objekt zu suchen, und legen durch diese Nutzung und die diesen Materialien zugewiesenen Funktionen ihre Brillanz an den Tag.

Eine sichere Methode, um unsere Kinder durch Erziehung auf eine unbekannte Zukunft vorzubereiten, ist die tägliche Förderung in gut organisierten Freiluft-Gruppenräumen voller loser Teile, in denen neugierige, fürsorgliche Erwachsene bereit sind, gemeinsam mit den Kindern zu lernen.

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Mehr über die Forschungsarbeit der Dimensions Foundation erfahren Sie unter www.natureexplore.org.

Quellen

Bohling, V., Saarela, C., und Miller, D. (2010). This never would have happened indoors: Supporting preschool-age children’s learning in a Nature Explore classroom in Minnesota. Dimensions Educational Research Foundation.

Daly, L., und Beloglovsky, M. (2015) Loose parts: Inspiring play in young children. St. Paul, MN: Redleaf Press

Dennis, S.F., Wells, A., und Bishop, C. (2014). Children, Youth and Environments, Band 24, Nr. 2, Greening Early Childhood Education, S. 35-52

Hirsh-Pasek, K., und Golinkoff, R.M. (2003). Einstein never used flashcards. Emmaus, PA: Rodale.

Hohmann, M., und Weikart, D. (1995). Educating young children. Ypsilanti, MI: High/Scope Press.

Lester, S., und Maudsley, M. (2007). Play, Naturally: A Review of Children's Natural Play. Los Angeles: National Children's Bureau Enterprises Ltd.

Linn, S. (2008). The case for make-believe: Saving play in a commercialized world. NY: The New Press.

Miller, D.L. (2007). The seeds of learning: Young children develop important skills through their gardening activities at one Midwestern Early Education Program. Applied Environmental Education and Communication, 6, 49-66.

Thompson, J. E., und Thompson, R. A. (2007, November/Dezember). Natural connections: Children, nature and social-emotional development. Exchange, S. 46-49. White, R., und Stoecklin, V. (2014). Children’s outdoor play and learning environments: Returning to nature. Aufgerufen 2015 unter www.whitehutchinson.com

©2015 Dimensions Foundation/Nature Explore

Themen
Außengelände, Draußenspiel, Rolle der pädagogischen Fachkraft
Alter
Alle Altersgruppen
Verwendung
Ausbildung, Weiterbildung