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Resilienz

Mehr als nur Stehaufmännchen sein

Joan Almon | Oktober 2021

Was ist Resilienz?

Wenn ich an das Wort Resilienz denke, kommt mir sofort das Bild des Stehaufmännchens in den Kopf, das ich als Kind besaß. Es war eiförmig, mit Luft gefüllt und hatte eine abgerundete, gewichtete Unterseite. Es war so groß wie ich. Ich konnte es umstoßen, so oft ich wollte – es stellte sich immer wieder auf. Ich liebte dieses Stehaufmännchen und auch die Botschaft, die es vermittelte: Wenn dich das Leben umhaut, dann steh wieder auf.

Aber Resilienz ist viel mehr, als wieder auf die Beine zu kommen und zu seiner alten Form zurückzufinden. Mit Resilienz können wir den Schwierigkeiten des Lebens begegnen, und sie zu Sprungbrettern machen, sodass wir an ihnen wachsen und uns weiterentwickeln.

Erzieherin und Kind blicken lächelnd in den Regen

Wir sind fähig, Probleme, Tragödien und Traumata zu überwinden, aber das braucht Zeit. Es ist harte Arbeit, das Tal der Tränen zu verlassen und wieder zu uns selbst zu finden. Oft gelingt uns dies besser mit etwas Hilfe. Das Bild des Stehaufmännchens sollte letztendlich durch das Bild des Phönix ersetzt werden, der sich aus seiner eigenen Asche erhebt.

Resilienz wohnt jedem von uns inne. Ob sie allerdings in einem Kind zum Vorschein kommt, hängt von seiner Persönlichkeit, seiner Erziehung und seinem Bildungsweg ab. Viele Menschen machen sich heute Sorgen, dass Kinder nicht ausreichend Resilienz aufbauen und somit nicht gut genug darauf vorbereitet sind, was das Leben ihnen abverlangen wird. Einige Kinder werden nicht genug umsorgt und gefördert und finden Zeit ihres Lebens keinen rechten Halt. Andere werden mit Samthandschuhen angefasst und überbehütet. Sie werden für alle noch so kleinen Erfolge gelobt und belohnt und vor Risiken und Misserfolgen beschützt. Dies bereitet Grund zur Sorge: Fehlt es diesen Kindern am Ende an der nötigen Charakterfestigkeit und Entschlossenheit, um den Herausforderungen des Lebens standzuhalten, oder diese Herausforderungen zur persönlichen Weiterentwicklung zu nutzen?

Diese Sorge führt zu einem neuen Bild: Anstelle der „Helikopter-Eltern“, die ihren Kindern bereits beim kleinsten Problem zur Hilfe eilen, rücken nun die „Kolibri-Eltern“ in den Blickpunkt des Geschehens. Diese bleiben zwar immer in der Nähe, helfen ihren Kindern aber nur dann, wenn dies tatsächlich notwendig ist. Sie setzen ihre Kinder einem Maß an Risiko aus, das die Kinder bewältigen können. Darüber hinaus kann noch eine weitere Stufe in der Kindererziehung angestrebt werden: Eltern können ihre Kinder darauf vorbereiten, ihrem Alter und den Umständen entsprechend so frei und selbstständig wie möglich zu sein. Solche Kinder sind meist sehr selbstsicher und resilient. Lenore Skenazys Buch und ihre Website über „Free-Range Parenting“ (Erziehung zur Selbstständigkeit) sind sehr hilfreich und erklären diese Herangehensweise an Resilienz sehr gut.

Ein Kleinkind hält die Hand eines Erwachsenen

Die Kauai-Studie: Meilenstein der Resilienzforschung

Eine zentrale Frage zum Verständnis von Resilienz ist die, warum einige Kinder – trotz schwieriger Umstände – im Leben zurechtkommen und andere nicht. Eine umfangreiche Studie zum Thema Resilienz wurde auf der hawaiianischen Insel Kauai durchgeführt. Die Forscherinnen Emmy Werner und Ruth Smith begleiteten knapp 700 Kinder (Jahrgang 1955) bis zu ihrem 40. Geburtstag.

Etwa ein Drittel dieser Kinder kam aus schwierigen Familienverhältnissen mit einem oder mehreren Risikofaktoren. Dennoch wuchs etwa ein Drittel dieser gefährdeten Kinder zu fürsorglichen, kompetenten und selbstbewussten Erwachsenen heran. Wie haben sie das geschafft? Die Forscherinnen konnten drei Gruppen von „Schutzfaktoren“ identifizieren, die diesen Teilnehmern dabei halfen, die Probleme ihrer Kindheit zu überwinden. Diese Faktoren sind für alle Kinder wichtig und nicht nur für solche mit bekannten Risikofaktoren. Die folgenden Beschreibungen und Aussagen stammen aus einem Artikel über die Kauai-Langzeitstudie:

1. Individuelle Schutzfaktoren

Die Kinder in dieser Studie, die zu sehr resilienten Erwachsenen heranwuchsen, verfügten bereits im Baby- und Kleinkindalter über eine Reihe von positiven Eigenschaften. Sie waren sehr sozial und riefen bei ihren Gegenübern positive Reaktionen hervor. Sie wiesen ebenfalls meist eine gute sprachliche und motorische Entwicklung auf. Sie hatten Begabungen, die ihr Selbstbewusstsein förderten. Sie waren anderen gegenüber hilfsbereit. In der späten Adoleszenz hatten sie einen Glauben an ihre Selbstwirksamkeit sowie die Überzeugung entwickelt, dass sie Probleme, die sich ihnen in den Weg stellten, selbstständig lösen können.

Aber nicht alle Kinder und Jugendlichen haben von Natur aus ein solches Selbstvertrauen und Charisma. Ich erinnere mich daran, wie schwer es mir fiel, einem Jungen in meiner Gruppe, der mir und allen anderen gegenüber durchgängig negativ eingestellt war, positiv zu begegnen. Aber obwohl sich seine Stimmung bis Ende des Jahres nicht vollständig gebessert hatte, hatte ich den Eindruck, dass wir diesem Ziel gemeinsam ein gutes Stück nähergekommen waren. Ein Bild, das er für mich gemalt hatte, drückte dies auf besondere Weise aus. Es zeigte einen Jungen mit einem breiten Lächeln im Gesicht, aber an einer Seite waren etwa fünfmal die Worte „Nein, nein, nein“ geschrieben.

2. Familiäre Schutzfaktoren

Die enge Beziehung zu „mindestens einer kompetenten, emotional stabilen Person, die auf ihre Bedürfnisse einging“, war einer der wichtigsten Faktoren für die Kinder, die trotz ihrer schwierigen Ausgangslage ihr Leben meisterten. Bei dieser Person konnte es sich um ein Eltern-, Großeltern- oder Geschwisterteil, eine Tante oder einen Onkel handeln. Die resilienten Kinder waren besonders gut darin, alternative Elternfiguren zu „rekrutieren“, wenn ihre eigenen Eltern diese lebenswichtige Funktion nicht ausfüllen konnten.

Wenn die Stressbelastung in einer Familie sehr hoch ist, wird das Leben für das Elternteil oder den Erwachsenen, der in erster Linie für die emotionale Unterstützung eines Kindes zuständig ist, sehr schwierig. Als Erziehungskräfte und Bezugspersonen können wir Erwachsene und Kinder unterstützen, indem wir ihnen gut zuhören und ihnen helfen, anstatt sie zu verurteilen.

3. Soziale Schutzfaktoren

Die Kauai-Studie ergab, dass sich resiliente Kinder und Jugendliche oft an ältere und gleichaltrige Mitglieder ihrer Gemeinschaft wandten, wenn sie emotionale Unterstützung oder Rat in Krisenzeiten benötigten. Sie wandten sich beispielsweise an ihren Lieblingslehrer oder einen Nachbarn, die Eltern eines Freundes oder einen Seelsorger.

Von Psychologen habe ich erfahren, dass Erwachsene mit emotionalen Problemen während der Therapie oft von der einen Person erzählen, die ihnen in ihrer Kindheit beigestanden hat. Dabei kann es sich zum Beispiel um eine Erzieherin handeln, die sich für sie eingesetzt hat. Die Erinnerung an diese Person wird zum Rettungsanker auf dem Weg zurück zu einem gesunden Leben. Jede Erziehungskraft kann für ein Kind eine solche Person sein.

Ein Mädchen im Kindergartenalter sieht seine Erzieherin über das Geländer einer Brücke hinweg an

ErzieherInnen und ihre Rolle für die Förderung von Resilienz

Es gibt so viele Möglichkeiten, wie ErzieherInnen und Bezugspersonen Kindern ein sicheres Fundament bieten können, das es ihnen ermöglicht, in schwierigen Zeiten wieder auf die Beine zu kommen. Hier möchte ich einige der vielen Ideen vorstellen, die sich in meiner Arbeit mit Kindern besonders bewährt haben. Es ist sicherlich eine gute Idee, darüber nachzudenken, welche Ihrer Methoden die Resilienz von Kindern fördern und wie Sie diese Methoden zu einem festen Bestandteil Ihrer Arbeit machen können.

Fürsorgliche Beziehungen zu den Kindern aufbauen

Am wichtigsten ist es, dass Erwachsene warmherzige, liebevolle Beziehungen mit Kindern pflegen. Eine solche Zuwendung verwandelt sich in einen Schutzmantel, der das Kind umhüllt, ihm Kraft gibt und es stärkt. Zuwendung gibt Kindern die Sicherheit, dass sie nicht allein sind. Sie erkennen, dass es neben ihren Familien Menschen in dieser Welt gibt, die sich um sie sorgen, die sie lieben und die ihnen zur Seite stehen, wenn sie es brauchen.

Ausrichtung auf die natürliche Welt

Wenn Kinder sich in der Natur wohlfühlen, fühlen sie sich in der Regel auch geborgen im Leben – mit all seinen Höhen und Tiefen. Sie erkennen, dass die Natur widerstandsfähig ist und sich von Katastrophen wie Bränden und Fluten, Stürmen und Erdbeben erholt. Und das macht Mut. Wenn wir die Jahreszeiten mit Liedern, Geschichten, saisonalen Gerichten, Kunstwerken und Bastelarbeiten feiern, schaffen wir dafür eine solide Basis. Kinder lernen, dass Veränderung ein Teil des Lebens ist. Sie leben und erleben den Lauf der vier Jahreszeiten, die das Leben zum Aufblühen und Verwelken bringen. Diesen Kreislauf erleben sie wieder und immer wieder. Sie leben im beruhigenden Wissen, dass das Leben weitergeht, selbst wenn die Welt leblos und erstarrt scheint. Wachsen Kinder in Gegenden mit vier unterscheidbaren Jahreszeiten auf, ist diese Erfahrung eine sehr sichtbare. Aber selbst am Äquator wird dieser Jahreskreis gefeiert, denn die unterschiedlichen Jahreszeiten bringen verschiedene Blumen und Früchte hervor. Menschen haben schon immer verstanden, dass das Leben zyklisch verläuft und niemals endet.

Die Macht der Märchen

Märchen vermitteln Bilder, die für Kinder eine besondere Bedeutung haben, vor allem in schwierigen Zeiten. Ein Kind aus meiner Klasse mochte die Geschichte von Aschenputtel ganz besonders. Als ihre Mutter starb, spielte sie sie monatelang nach. Es gab ihr Kraft, zu wissen, dass Aschenputtel selbst nach dem Tod ihrer Mutter von liebenden Wesen umgeben und beschützt wurde und dass sie selbst große Schwierigkeiten meistern konnte. In Märchen gibt es diese wunderbaren Helfer, die böse Zauber aufheben und den Prinzen oder die Prinzessin befreien. Dabei kann es sich um Menschen, Tiere oder sieben Zwerge handeln. Diese Helfer wecken die tief in uns schlummernde Hoffnung, dass wir unerwartete Hilfe erhalten könnten, selbst wenn das Leben schwierig ist und alles unmöglich erscheint. Wir können viel für uns selbst tun, aber um wirklich resilient zu sein und die Wachstums- und Entwicklungschancen bestmöglich zu nutzen, brauchen wir oft Hilfe von anderen.

Eine Erzieherin zeigt einem Jungen, wie man trommelt

Fazit

Es gibt nichts Traurigeres, als zu sehen, wie ein Erwachsener mit Schwierigkeiten konfrontiert wird und sie nicht überwinden kann. Wenn wir aber einen Menschen treffen (oder auch nur von ihm hören), dem es gelungen ist, sich aus eigenem Antrieb aus einer schwierigen Lage zu befreien, dann hilft es uns, selbst zu wachsen.

Als Erziehungskräfte und Bezugspersonen können wir unseren Teil leisten, um Kinder auf ein solch resilientes Leben vorzubereiten. Wir können Kinder mit Liebe und Warmherzigkeit umgeben, die sie nicht erdrücken, sondern ihnen ein solides Fundament geben, auf dem sie den Widrigkeiten des Lebens begegnen können. Wir können als Erwachsene mit gutem Beispiel vorangehen und Schwierigkeiten mit Mut und Hoffnung begegnen. Wir können die Liebe zur Natur und das Vertrauen in ihre Zyklen von Leben und Wiedergeburt kultivieren. Und wir können einen Sinn für das Heilige fördern sowie eine Dankbarkeit für die Hilfe, die uns in vielerlei Art entgegengebracht wird, wenn wir sie brauchen. Wie in vielen Bereichen einer gesunden Entwicklung ist bei Kindern Resilienz eine angeborene Fähigkeit. Aber bis sie gereift ist und zur Problembewältigung zur Verfügung steht, benötigen sie fürsorgliche Erwachsene, die ihnen helfen.

Themen
soziale und emotionale Bildung
Alter
Alle Altersgruppen
Verwendung
Ausbildung, Weiterbildung