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Über die Kunst, Zuwendung auszudrücken

Masken können unsere emotionale Intelligenz und unseren Wunsch nach Begegnung nicht verdecken

Carol Garboden Murray | Januar 2021

Erzieherin und Kind mit Schutzmasken

Nachdem im letzten Sommer die Anweisung, zu Hause zu bleiben, aufgehoben wurde, widmete ich mich endlich wieder meiner samstäglichen Morgenroutine und ging einkaufen. Ich setzte zum ersten Mal die Maske auf und fühlte mich traurig und fassungslos, als ich mich auf den Weg zum Supermarkt machte. Es war so seltsam, meinen Mund und mein Lächeln hinter diesem Maulkorb zu verstecken.

Doch dann passierte etwas Überraschendes. Als ich mich an der Kasse anstellte, sah ich David, den Kassierer, den ich am besten mochte. Ich hatte ihn seit Monaten nicht gesehen. In all den Jahren, in denen ich meine Einkäufe in diesem Supermarkt erledigte, hatten wir nie mehr als oberflächliche Nettigkeiten ausgetauscht. Aber dieses Mal unterhielten wir uns wie alte Freunde. Die Masken störten unsere Unterhaltung überhaupt nicht. Sie hielten uns vielmehr dazu an, die Freude über unser Wiedersehen mit Worten und – so fühlte es sich an – mit unseren Herzen auszudrücken. Während meine Einkäufe auf dem Kassenband an mir vorüberfuhren, erfuhr ich, dass David fünf Geschwister und eine große Familie mit Nichten und Neffen hatte, dass er Geld für einen neuen Laptop sparte und im kommenden Jahr wieder aufs College gehen wollte, um Design zu studieren. Als ich danach meinen Einkaufswagen über den Parkplatz schob, zog ich die Maske herunter und atmete die frische Luft tief ein. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich mit der Situation klarkommen würde. Ich hatte ein Gefühl von Verbundenheit. Mir wurde klar, dass wir einen Weg finden würden, mit Unterricht und Betreuung weiterzumachen, selbst mit Masken vor dem Gesicht.

Nach der Wiedereröffnung unserer Kita verbrachten wir viel Zeit mit Reden. Wir machten uns Sorgen über die Auswirkungen, die das Tragen von Masken auf Kleinkinder haben würde. Hier in New York, wo ich arbeite, müssen zur Zeit alle Erwachsenen Masken tragen. Und zwar ständig. Wir haben es mit durchsichtigen Masken und Visieren versucht. Teilweise sind diese sehr hilfreich (beispielsweise während der Märchenstunde, bei der wir wollen, dass die Kinder unsere Mimik sehen können). Aber da wir mindestens acht Stunden pro Tag arbeiten, gehen wir mittlerweile ganz nüchtern an die Sache heran: Beim Arbeiten wird eben eine Maske angezogen. Wir wählen uns die bequemste Maske aus, die wir finden können, erlauben uns gegenseitig Maskenpausen und wechseln unsere Masken mehrmals am Tag, um uns frisch zu machen.

Absolut erstaunlich ist, wie gut die Kinder sich angepasst haben. Sie haben nicht nur das neue Aussehen ihrer Erzieher akzeptiert, sie offenbaren uns auch ihre eigene, angeborene soziale und emotionale Intelligenz. Eine Freundin von mir unterrichtet ebenfalls an einer Kindertageseinrichtung und trägt dabei eine Maske. Als sie im Herbst ihre Kinder wiedersah, erklärte sie ihnen, wie sie an den Augen eines Menschen sehen können, was er empfindet. Sie machte mit ihnen ein Spiel auf dem Spielplatz: Sie stellte sich etwas entfernt von den Kindern hin und diese sollten anhand ihrer Augen und ihrer Körpersprache erraten, wie sie sich fühlte.  Sie nahm dann kurz ihre Maske ab, um ihren übertriebenen Gesichtsausdruck – fröhlich, überrascht oder traurig – zu zeigen. Die Kinder lachten und sagten: „Wir wussten, dass du dieses Gesicht machen würdest!“ Meine Freundin hatte den Eindruck, dass sich die Kinder emotional auf sie ausrichteten und ihre Gefühlslage in einem viel größeren Ausmaß wahrnahmen, als ihr das jemals zuvor aufgefallen wäre.

Kinder beobachten stets unsere Augen – unser Blick hat eine unglaubliche Macht, wenn es darum geht, Zuwendung, Liebe und Respekt auszudrücken. Kinder verfolgen auch aufmerksam unseren Tonfall, unsere Gesten, unsere Körpersprache und unsere Haltung. All das sind subtile Arten, mit denen wir mit Kindern und untereinander kommunizieren.  Das Tragen einer Maske bringt uns bei, unsere Zuwendung zu anderen deutlich auszudrücken.

Pädagogische Fachkraft mit Kind draußen mit Masken

Dadurch, dass ich in den vergangenen Monaten eine Maske tragen musste, kam mir der Gedanke, dass Zuwendung das erste ist, was wir im Leben zu lesen lernen. Durch unsere Berührungen oder Blicke im Rahmen von Pflegeritualen – Füttern, Wiegen, Halten, Anziehen –, durch unseren ersten Austausch von menschlicher Zuwendung lernen unsere Kinder, unsere unausgesprochenen Botschaften zu hören und mit uns eine Verbindung einzugehen. Das ist die Sprache der Zuwendung.  Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Sprache nicht nur durch Blicke und das, was man sieht, oder durch den Körper und das, was man fühlt, vermittelt wird, sondern auch durch das Herz und das, was man innerlich spürt.

Howard Gardner hat uns gelehrt, dass Kinder eine inter- und eine intrapersonale Intelligenz besitzen.  Er beschreibt nicht nur, dass Kinder besonders gut dazu in der Lage sind, soziale Interaktionen zu interpretieren und intuitiv auf sie zu reagieren, sondern auch, wie sie sich selbst und andere wahrnehmen.  Kinder nehmen die Gefühle und die Beweggründe anderer sehr deutlich wahr und haben ein Gespür dafür, was uns in unserem Inneren bewegt. Howard Gardner ging sogar so weit, eine weitere Intelligenzform zu unterscheiden, die er existenzielle Intelligenz nennt. Er beschreibt damit die Fähigkeit von Kindern, mehr wahrzunehmen als das, was sie sehen und hören.

Kinder mit Masken im Garten halten Blumen, eine Erzieherin ist im Hintergrund

Ja. Wir wissen genau, was er meint. Denn für kleine Kinder zu sorgen, bedeutet, über das, was wir sehen und hören hinauszublicken. Wir werden immer wieder aufs Neue Zeuge dieser existenziellen Intelligenz.  Wenn ich Kindern zuschaue, frage ich mich also nicht, wie wir als Menschen Empathie, Bewusstsein und Verbindung erlernen. Vielmehr frage ich mich: Wie kommt es, dass wir diese Dinge als Erwachsene wieder verlernen?

Themen
Rolle der pädagogischen Fachkraft, soziale und emotionale Bildung
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Weiterbildung