Artikel

Lernprozesse bei Kleinkindern

Welche Rolle spielen Bildschirmgeräte?

Patricia Cantor | Dezember 2017

Babys und Kleinkinder wachsen in einer Welt auf, die voller Bildschirmgeräte ist. Tag für Tag werden mehr Fernsehprogramme, Apps, Videos, Spiele, E-Books und Spielzeuge für die Erziehung, Unterhaltung und Bildung von Kindern unter drei Jahren entwickelt und vermarktet. Und Babys und Kleinkinder  sind Tag für Tag umgeben von Erwachsenen, die ihnen vorleben, wie wichtig digitale Geräte in ihrem Leben sind.
Es gibt die Versuchung zu denken, dass Kinder heute wegen der Allgegenwart von Bildschirmmedien in ihrem Leben irgendwie anders geschaltet sind. Aber es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Babys und Kleinkinder heute sich genauso entwickeln und lernen, wie es Generationen vor ihnen gemacht haben. Um sich gesund zu entwickeln,  brauchen Kinder Interaktionen mit aufmerksamen, ihnen zugewandten Erwachsenen. Sie brauchen Gelegenheiten, mit all ihren Sinnen zu spielen, sich zu bewegen und Dinge auszuprobieren. Sie brauchen reichhaltige Erfahrungen von Sprache. Sie brauchen Menschen, die ihnen vorlesen und vorsingen und die mit ihenen sprechen.

Es ist kein Wunder, dass viele ErzieherInnen (und auch Eltern) sehr kleiner Kinder Fragen und Bedenken bezüglich Bildschirmmedien haben. Es gibt keinen anderen Weg, als sich über die möglichen Auswirkungen von Bildschirmmedien auf das Lernen und die Entwicklung von Kindern zu informieren. Meine Kollegin Mary Cornish und ich nennen das „tech-wise“ zu sein: technologisch gewieft. Krippen- und Kitafachkräfte, die tech-wise sind, wissen, was kleine Kinder brauchen, um sich gut zu entwickeln und wenden dieses Wissen in der Praxis an, um weise Entscheidungen über den Umgang mit Bildschirmmedien zu treffen.

Eine Erzieherin spricht und spielt mit einem Kleinkind

Wir stellen Fachkräften oft die folgenden drei Fragen als Teil der Entwicklung, tech-wise zu werden:

Ist die Verwendung von Bildschirmmedien notwendig, um das Lernen von Babys und Kleinkindern zu fördern?

Zur Zeit gibt es nur ein begrenztes Ausmaß an Forschung über die Auswirkungen von Bildschirmmedien auf Babys und Kleinkinder, insbesondere neuerer Formen wie z.B. Apps. Obwohl die Forschung darauf hindeutet, dass es unter sehr spezifischen Umständen ein gewisses Lernpotential gibt, scheint das Schädigungspotential größer zu sein.

Es gibt allerdings eine sehr robuste Beweislage bezüglich dessen, was Babys und Kleinkinder brauchen, um zu lernen und sich gesund zu entwickeln. Babys und Kleinkinder lernen mit allen Sinnen und müssen in bedeutungsvollen Zusammenhängen echte Erfahrungen machen. Sie lernen durch responsive Beziehungen mit ihnen zugewandten Erwachsenen, durch verbale und nichtverbale Interaktionen, durch körperliche Aktivität und Spiel. Sie lernen durch Gelegenheiten, alle möglichen Dinge aktiv zu untersuchen und auszuprobieren und durch Kontakt mit andern Kindern. Sie lernen, indem sie Erfahrungen machen, die ihnen erlauben, Wissen darüber zu konstruieren, wie die Welt funktioniert.

Hier ein Beispiel:

Die neun Monate alte Maria knallt immer wieder eine Plastiktasse auf den Tisch. Durch diese scheinbar einfache Erfahrung gewinnt Maria eine Menge sensorischer Informationen: Das Gefühl davon, wie sich Hand und Arm anfühlen, wenn die Tasse auf den Tisch knallt und die Erfahrung, dass das Gefühl intensiver wird, je härter sie die Tasse aufschlägt. Die Erkenntnis, dass das Aufschlagen von einem Geräusch begleitet wird und dass dieses Geräusch lauter wird, je härter sie die Tasse aufschlägt. Das Gefühl der Tasse in ihrer Hand und wie es sich verändert, abhängig davon, wie sie die Tasse hält. Maria merkt schnell, dass sie die Härte des Aufschlagens und die Lautstärke des Knallens kontrollieren kann und dass eine Änderung ihres Handelns eine veränderte Wirkung zur Folge hat. Aber es ist nicht nur eine körperliche Erfahrung. Dadurch, dass sie die Tasse wiederholt aufschlägt, gewinnt Maria ein Verständnis von Ursache und Wirkung, einem wichtigen Grundkonzept in ihrer intellektuellen Entwicklung.

Oberflächlich betrachtet scheint das Aufschlagen der Tasse auf den Tisch eine ganz einfache Erfahrung zu sein. In Wirklichkeit ist es jedoch eine vielschichtige Lernchance, die die körperliche, soziale, emotionale und intellektuelle Entwicklung des Babys fördert. Babys brauchen sehr, sehr viele solcher Erfahrungen, um ein Verständnis von Ursachen und Wirkungen und eine Vorstellung ihrer eigenen Fähigkeiten zu bekommen. Der Wert dieser Erfahrung wird gesteigert, wenn sie im Kontext einer Beziehung von Maria mit einem vertrauten Erwachsenen erfolgt. Marias Erzieherin kann ihren Lernprozess unterstützen, indem sie ihr Material gibt, mit dem sie ohne Risiko umgehen und experimentieren kann, und wenn sie Marias Interessen beobachtet, ohne Einfluss zu nehmen, und über ihre Handlungen und die Geräusche, die dabei entstehen, zu Maria spricht.

Ein kleines Mädchen experimentiert an einem Tisch mit Holzbausteinen

Denken Sie darüber nach, ob eine App oder ein anderes Medienprodukt eine solche reichhaltige Sinneserfahrung bieten kann. Wenn ein Kleinkind über ein Display streicht, um das Bild einer Tasse zum Vorschein zu bringen, kann es den Anschein erwecken, als würde ein Verständnis von Ursache und Wirkung geschaffen: Ich bewege meinen Finger und ein Bild erscheint.  Allerdings bleibt all das auf einem sehr niedrigen Niveau. Ein solches Szenario bietet wesentlich weniger Lernmöglichkeiten als das, wo Maria die Tasse auf den Tisch aufschlug, wo sie erleben konnte, dass unterschiedliche Handlungen unterschiedliche Wirkungen hervorrufen.

Kann die Verwendung von Bildschirmmedien die Entwicklung und den Lernprozess von Babys und Kleinkindern stören oder negativ beeinflussen?

Die vollen Auswirkungen von neuen Technologien wie Apps und E-Books auf die Entwicklung und den Lernprozess von Babys und Kleinkindern sind noch nicht bekannt, aber Jahrzehnte der Forschung über Fernsehen und Videos weisen darauf hin, dass die Verwendung von Bildschirmmedien durch sehr junge Kinder mit höheren Risiken für Übergewicht, Aufmerksamkeitsschwäche, Schlafstörungen, Sprachverzögerung und aggressivem Verhalten einhergeht. Sogar „Hintergrundberieselung“, ein eingeschalteter Fernseher im selben Raum, in dem das Kind spielt,  stört die Aufmerksamkeit von Babys und hat negative Auswirkungen auf ihre Sprachentwicklung und ihr soziales Spielverhalten.

Bildschirmmedien können in Situationen wie diesen schädlich sein: Wenn sie die sozialen Interaktionen der Kinder mit den Erwachsenen stören oder verhindern, wenn sie die Konzentration des Kindes auf einem zweidimensionalen Bildschirm halten, anstelle von vieldimensionalen sensorischen Erfahrungen, wenn der Inhalt irrelevant, bedeutungslos oder potentiell schädlich ist, wenn das Kind ein passiver Mediennutzer ist, wenn der Inhalt keine Kreativität zulässt und sich auf richtige und falsche Antworten konzentriert und schließlich wenn Kinder ihre Zeit vor Bildschirmen verbringen anstatt sich zu bewegen und körperlich zu betätigen.
Wer darüber nachdenkt, wie bzw. ob Bildschirmmedien für Babys und Kleinkinder eingesetzt werden können, sollte sorgfältig die möglichen negativen Auswirkungen bedenken, um sie zu vermeiden. Angesichts des Mangels an Belegen dafür, dass die Verwendung von Bildschirmmedien für Kinder unter zwei Jahren irgendwelche entwicklungsfördernden Auswirkungen hat und den gleichzeitigen Forschungsergebnissen, die die Möglichkeit von schädlichen Auswirkungen nahelegen, spricht sich die kinderärztliche Vereinigung der USA (American Academy of Pediatrics, AAP) gegen den Einsatz von Bildschirmmedien bei Kindern unter 18 Monaten aus (mit der Ausnahme von Video-Chats) und empfiehlt eine sehr eingeschränkte Verwendung bei Kindern zwischen 18 und 24 Monaten.

Bildschirmmedien sollten nie die Gelegenheiten von Kindern ersetzen oder verringern, die Welt durch Experimentieren, Spiel und direkte Erfahrung mit allen Sinnen kennenzulernen, mit anderen Kindern zu interagieren und Beziehungen mit ihnen zugewandten Erwachsenen einzugehen und zu festigen.

Können Bildschirmmedien verwendet werden, um den Lernprozess von Babys und Kleinkindern zu fördern?

Allen Werbebotschaften zum Trotz, die aus Babys kleine Einsteins machen wollen, ist eindeutig bewiesen, dass Babys und Kleinkinder wesentlich besser durch echte Lebenssituationen mit anderen Menschen lernen als durch etwas, das sie auf einem Bildschirm sehen. Babys und Kleinkindern fällt es schwerer, zweidimensionale Bilder wie solche auf einem Bildschirm zu verarbeiten als die dreidimensionalen Bilder, denen sie im wirklichen Leben begegnen. Wie die kinderärztliche Vereinigung der USA (AAP) es in ihrer Stellungnahme „Media and Young Minds“ aus dem Jahr 2016 ausdrückt: „Aufgrund ihrer noch nicht ausgereiften symbolischen, Gedächtnis- und Konzentrationsfähigkeit können Babys und Kleinkinder durch traditionelle digitale Medien nicht so lernen wie durch Interaktionen mit Pflegepersonen.“
Wenn sehr junge Kinder Bildschirmmedien ausgesetzt sind, sollten sie in der Verwendung nicht alleingelassen werden. Ein verantwortlicher Erwachsener sollte während des Medienkonsums mit dem Kind in Austausch sein, mit ihm darüber sprechen, ihm helfen, Zusammenhänge mit seinen eigenen Erfahrungen herzustellen und die Medieninhalte zu verstehen. Wir nennen das „gemeinsame Medienerfahrung“. Um gemeinsame Medienerfahrung wirksam zu machen, braucht es mehr, als zusammen eine Fernsehsendung anzusehen oder sich durch eine App durchzuwischen.

Sogar im Digitalzeitalter brauchen Babys und Kleinkinder keine Bildschirmmedien, um sich gesund zu entwickeln. Erzieherinnen und Erzieher können ihren Entwicklungs- und Lernprozess ohne die Verwendung von Bildschirmmedien fördern. Wenn Medienprodukte in Kindertageseinrichtungen für sehr junge Kinder eingesetzt werden, sollten sie nur auf entwicklungsgerechte Weise verwendet werden, um die Erreichung der wesentlichen Lernziele für Kinder unter drei Jahren zu fördern. Die Stellungnahme der NAEYC zu „Wirkungsvollen Lehrmethoden mit Technologie und interaktiven Medien“ (2012) betont auch diesen Punkt und stellt für Babys und Kleinkinder fest: „Wenn Technologie verwendet wird, muss dies im Zusammenhang mit Kommunikation und Interaktion mit einem Erwachsenen geschehen.“ Chip Donohue zufolge, dem Direktor des Zentrums für Technologie in der frühen Kindheit beim Erikson Institut und Forschungsbeauftragten beim Fred Rogers Zentrum für frühkindliches Lernen und Medien, geht es bei Technologie in der frühen Kindheit „um Beziehungen.“

Eine Erzieherin liest zwei kleinen Mächen aus einem Buch vor

Wenn wir darüber nachdenken, ob, wann, wie und warum wir Technologie mit kleinen Kindern verwenden wollen, müssen wir über Bildschirme, Geräte, digitale Medien und interaktive Technologien hinaus blicken und uns daran erinnern, dass jede Entscheidung, die wir treffen, auf unserem Wissen über kindliche Entwicklungs- und Lernprozesse  und entwicklungsgerechten Methoden beruhen  und immer im Zusammenhang mit Interaktionen und Beziehungen stehen muss, die eine gesunde sozio-emotionale und pro-soziale Entwicklung fördern und Beziehungen zwischen kleinen Kindern und fürsorglichen Erwachsenen schaffen, keine Beziehungsstörungen. (Donohue 2014, S.70)

Babys und Kleinkinder lernen durch soziale Interaktionen innerhalb von Beziehungen mit vertrauten Erwachsenen. Keine App kann das ersetzen.

Literatur

Cantor, Patricia A. und Mary M. Cornish. (2016): Techwise Infant and Toddler Teachers. Making Sense of Screen Media for Children Under 3

AAP Council on Communications and Media. (2016, November). Media and young minds. Pediatrics 138 (5).

Donohue, C. (2014, September). Technology in the early years…it’s about relationships.  Child Care Information Exchange, 70–71.

National Association for the Education of Young Children & The Fred Rogers Center for Early Learning and Children’s Media at St. Vincent’s College. (2012). Technology and interactive media as tools in early childhood programs serving children from birth through age 8. Joint Position Statement. Abgerufen von www.naeyc.org/content/technology-and-young-children

Themen
Digitale Kompetenz und Medien, soziale und emotionale Bildung
Alter
Krippe
Verwendung
Ausbildung, Weiterbildung