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Das Lebenswerk des Pfarrers Johann Friedrich Oberlin

Erfinder der vorschulischen Erziehung

Hans Riebsamen | April 2022
„Den 20. ging Lenz durch‘s Gebirg.“ Mit diesem Satz beginnt eine der besten Erzählungen in deutscher Sprache: „Lenz“ von Georg Büchner, dem großen hessischen Dichter. In manchen Ausgaben ist vom „20. Jänner“ oder dem „20. Januar“ die Rede. Ob Büchner im ersten Satz den Monat genannt hat oder nicht, steht nicht genau fest, das Original des Textes ist verloren gegangen, es existiert nur eine - wohl lückenhafte - Abschrift durch Büchners Verlobte Wilhelmine Jaeglé. Eingefleischte Büchner-Verehrer und Lenz-Liebhaber nehmen den Dichter beim Datum und gehen auf Schusters Rappen alljährlich am 20. Januar durchs Gebirg.

Ihr Ziel ist jenes Waldbach, das der vom Wahnsinn gejagte Lenz in der Erzählung anstrebt, um beim Pfarrer Oberlin Trost und Heilung zu finden. Das Gebirg sind die Vogesen, Waldbach heißt in Wirklichkeit Waldersbach und ist ein Dorf im elsässischen Steintal. Auch die beiden Figuren Lenz und Oberlin hat Büchner nicht erfunden. Der aus Livland stammende Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz ist 1778 mit 26 Jahren tatsächlich von Straßburg über die Vogesen nach Waldersbach gelaufen, wo er vom evangelischen Pfarrer Johann Friedrich Oberlin aufgenommen wurde.

Blick auf Waldersbach (Bas-Rhin) vom Garten des Museums Jean-Frédéric Oberlin aus

„Oberlin war unermüdlich“

Büchner selbst hat weder das Vogesendorf noch dessen Pfarrer persönlich kennengelernt. Er, der in Hessen damals als politischer Aufrührer steckbrieflich gesucht wurde, hatte zwischen 1835 und 1836 in Straßburg Schutz gesucht. Dort ist er auf den Bericht des Pfarrers Oberlin gestoßen, den dieser über den Aufenthalt des Dichters Lenz in Waldersbach für seine Vorgesetzten in der elsässischen Metropole verfasst hatte. „Ich habe mir allerhand interessante Notizen über einen Freund Goethes, einen unglücklichen Poeten namens Lenz verschafft, der sich gleichzeitig mit Goethe hier aufhielt und halb verrückt wurde“, schrieb Büchner in einem Brief vom Oktober 1835.

Am Tag nach seiner Ankunft in Waldersbach lässt Büchner seinen Lenz den Pfarrer bei dessen Besuchen im Steintal begleiten. „In den Hütten war es lebendig, man drängte sich um Oberlin, er wies zurecht, gab Rat, tröstete;... Dann rasch in‘s praktische Leben, Wege angelegt, Kanäle gegraben, die Schule besucht“, heißt es in der Erzählung: „Oberlin war unermüdlich.“

Der Pastor bei der Arbeit auf einem Weg: Stich aus dem Jahr 1819

In Deutschland ist der evangelische Pfarrer durch Büchners Erzählung in die Literaturgeschichte eingegangen, in Frankreich hingegen ist er als Sozialreformer berühmt. Die Franzosen erinnern sich an Oberlin als den großen Volksaufklärer und Erfinder des Kindergartens.

Visionär des Himmels und Schaffender auf Erden

Im Pfarrhaus in Waldersbach, das nun das Oberlin-Museum beherbergt, wird an diesen Pfarrer der Aufklärungszeit, der damals mit seinen Reformen das bitterarme Steintal vorangebracht hat, erinnert. Für Büchner- und Lenz-Verehrer ist dieses Pfarrhaus ein Sehnsuchtsort, doch auch für normale Touristen stellt es ein lohnendes Ziel dar. Selten findet man auf dem Land ein so reizendes, auch für Kinder ungemein anregendes Museum, und selten trifft man auf eine derart interessante historische Figur wie diesen Pfarrer Oberlin, der in einer Person ein origineller Theologe, ein pädagogisches Genie, ein wissensdurstiger Naturwissenschaftler, ein leidenschaftlicher Sammler und ein unermüdlicher Sozialreformer war.

Als Visionär des Himmels und Schaffender auf Erden ist Oberlin einmal bezeichnet worden. Der Pfarrer gab sich ausführlichen Spekulationen über das Jenseits hin und zeichnete eine Karte mit den „Bleibstätten der Verstorbenen“. Ganz unten liegt der Feuer-See, in welchen die Bösen nach dem Jüngsten Gericht geworfen werden, während die Guten in das Neue Jerusalem einziehen. Dazwischen finden sich Orte wie der Berg Zion, wo die Heiligen Wohnung genommen haben, oder die Höllen des Tals Kidron, gefüllt mit Menschen , die in Hass, Ungerechtigkeit, Geiz oder anderen Lastern gestorben sind.

Oberlin als Vater der Kindergärten

Ganz irdisch sind indes die pädagogischen Reformen, die Oberlin in den Dörfern des Steintals ein- oder im Sinne seines Vorgängers weitergeführt hat. Oberlin lässt während seiner fünf Jahrzehnte in Waldersbach Schulhäuser bauen, erweitert die Leihbüchereien, kümmert sich darum, dass die Ländler, die nur Patois, also Dialekt, sprechen, richtiges Französisch lernen. Seine wichtigste Tat auf diesem Feld ist die Gründung von „Strickstuben“, die nichts anderes sind als Kindergärten oder Vorschulen.

Garten des Oberlin-Museums in Waldersbach

Die Vernachlässigung der Kleinkinder hat Oberlin, der 1767 als Pastor nach Waldersbach gekommen war, wo er 1826 im Alter von 85 Jahren starb, am Anfang große Sorge bereitet. Viele der Mädchen und Jungen blieben, weil ihre Eltern sie noch nicht zur Feldarbeit heranziehen konnten, den ganzen Tag unbeaufsichtigt. Zwei Jahre nach seinem Amtsantritt findet er in dem zu seinem Amtsbezirk gehörenden Ort Belmont die junge Dorfbewohnerin Sara Banzet, die aus eigenem Antrieb eine kleine Gruppe von Kindern um sich versammelt hatte, denen sie das Stricken beibrachte und gleichzeitig erstes Schulwissen vermittelte. Oberlin ergreift sofort die Chance und trifft mit dem Vater der jungen Frau eine Übereinkunft, wonach diese als Erzieherin in seine Dienste tritt.

Geschichte und Naturkunde

Im nächsten Schritt richtet Oberlin auch in Waldersbach und anderen Dörfern derartige Strickstuben ein. Wäre das Steintal zugänglicher gewesen, hätten die Behörden diesen Kindergärten wohl schnell ein Ende bereitet: Jungen Frauen die Erziehung der Kleinsten anzuvertrauen, wurde in dieser Zeit als Skandal empfunden. 30 Jahre später wird der Pfarrer für seine Erfindung der Strickschule von der französischen Nationalversammlung hoch gelobt.

Die von Oberlin engagierten Erzieherinnen zeigten ihren Schülern gerne Bilder aus der Geschichte sowie von Tieren und Pflanzen. Oberlin hatte darauf die Namen in Französisch und Patois geschrieben. Die Kindergärtnerinnen sagten den Mädchen und Jungen diese Namen vor und ließen diese auf Französisch wiederholen. Gleichzeitig beschäftigten sie die Hände der Kleinen mit Stricken, eine Fertigkeit, die bis dahin im Steintal unbekannt gewesen war. Die Bilder von Tieren und Pflanzen, aber auch andere Lernmaterialien haben Oberlin und seine Söhne selbst hergestellt. Die Originale kann man heute noch im Museum in Waldersbach bewundern.

Schwarzer Pfeffer (Piper nigrum): Botanisches Lehrblatt, des Pfarrers Jean-Frédéric Oberlin, 18. Jahrhundert

Der Pfarrer hatte schnell erkannt, dass Schüler am besten lernen, wenn sie mit Phänomen ihrer Umwelt konfrontiert werden. Seine Sammlungen von Steinen, Muscheln, Eiern, Samen, Früchten und anderer Objekte ließ Oberlin im Unterricht einsetzen. In seinem Pfarrhaus hatte er außerdem eine Apotheke mit Arzneikräutern und Naturheilmitteln eingerichtet. Denn Oberlin fühlte sich nicht nur für die Seelen seiner Gemeindemitglieder, sondern auch für deren Körper verantwortlich. Deshalb ließ er Leute aus dem Dorf zu Barfuß-Ärzten und Hebammen ausbilden.

Große Krise in der Schweiz

Um die Landwirtschaft zu stärken, führt er moderne Saat- und Anbaumethoden ein. Unter seiner Anleitung verbesserten die Dörfler das Wegenetz, Oberlin ließ Straßen, Brücke und Kanäle anlegen. Sogar eine Leih- und Kreditanstalt konnte der Pfarrer in die Wege leiten, außerdem holte er Industriebetriebe ins arme Steintal. Nur Lenz konnte der gute Pfarrer nicht helfen. Anfangs glaubt der Dichter, in Oberlin einen Ersatzvater gefunden zu haben. Doch die Ahnung einer unabwendbaren Erkrankung wird in Lenz übermächtig.

Als Oberlin zu einer Reise in die Schweiz aufbricht, gerät er vollends in die Krise. Nach des Pfarrers Rückkehr ist Lenz‘ Geist zerrüttet, wiederholt will er sich des Nachts aus dem Fenster stürzen. Daraufhin lässt Oberlin den Dichter nach Straßburg transportieren. Lenz‘ weiteres Leben hat Büchner in seiner Erzählung so beschrieben: „Er tat Alles wie es die Anderen taten, es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen.“ Für Pfarrer Oberlin ist der Besuch des schizophrenen Dichters nur eine Randepisode in seinem überaus tätigen Leben gewesen. Hätte er nicht einen Bericht nach Straßburg geschickt und wäre dieser nicht zufällig Georg Büchner zu Gesicht gekommen, niemand wüsste heute mehr von jenem Geschehnis. Die Hälfte seiner Lenz-Erzählung hat Büchner im übrigen weitgehend wörtlich Oberlins Text entliehen. Der große Dichter, der vor 200 Jahren in Goddelau im hessischen Ried zur Welt gekommen ist, hat freilich aus dem Stoff Weltliteratur gemacht.

Heutiger Blick auf das Pfarrhaus in Waldersbach, wo ehemals Johann Friedrich Oberlin als Pfarrer tätig war

Dieser Artikel erschien am 24.03.2013 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main.

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