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Der High/Scope-Ansatz

Kinder aufs Leben vorbereiten

Miriam LeBlanc | Juni 2012

Nass … seifig … unvorhersehbar … rund … regenbogenfarbig …

Die schillernden Blasen segelten durch den Raum während wir Zweiergruppen bildeten – jeweils ausgestattet mit kleinen Seifenblasenfläschchen, die uns unsere High/Scope Trainer Margaret und Jan gegeben hatten.  Die schillernden Kugeln ließen sich auf unseren Köpfen nieder und versetzten uns zurück in die Tage unserer Kindheit – sogar die Stillsten und Ruhigsten unter uns lachten und sprangen herum, angesteckt von der Magie der Materie.

Als wir etwas später in die Realität zurückkehrten wurden wir gefragt, alle Eigenschaften aufzuzählen, die uns an den Seifenblasen aufgefallen waren. Schnell wuchs die Liste auf mehr als zwanzig an. Dann bekamen wir ein Bild mit ein paar Seifenblasen gezeigt, am Schluss einfach ein Bild mit dem Wort „Seifenblasen“. Welche der von uns notierten Eigenschaften trafen auch auf das Bild, wie viele auf das gedruckte Wort zu? Kaum ein Begriff aus unserer Liste blieb stehen. („Rund“ war einer der wenigen Überlebenden.) Das war unsere erste Lektion, unsere Einführung in eine der Kernaussagen des High/Scope Ansatzes: Wissen über die Welt wird durch praktische Aktivitäten hergestellt.

Nicht durchs Fernsehen, nicht durch Bücher. Nicht durch einen Lehrer, der über wichtige Dinge redet. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896-1980) sagte einmal: „Wissen entsteht weder aus den Dingen noch aus dem Kind, sondern von Interaktionen zwischen dem Kind und den Objekten.“

Child with soap bubble

Zu der Zeit, als der High/Scope Ansatz im späten 20. Jahrhundert entwickelt wurde, waren Piagets Vorstellungen über aktives Lernen bereits im allgemeinen pädagogischen Denken verbreitet. Zusammen mit den Arbeiten von Wygotski, Dewey, Bruner und Neisser stellen die Arbeiten von Piaget die Grundlage einer konstruktivistischen Lerntheorie dar. (Konstruktivistisch bedeutet hier, dass die Kinder ihr Wissen über die Welt durch das Machen von Erfahrungen konstruieren.) Sowohl in Europa als auch in den USA gewann diese Sichtweise vom Lernprozess immer mehr Anhänger.

Es begann im Jahr 1962. David Weikart aus Ypsilanti im US-Bundesstaat Michigan war dabei, an einem schlichtweg ungeeigneten Bildungssystem zu verzweifeln: Viel zu viele Kinder konnten am Ende Ihrer Schullaufbahn weder richtig lesen oder schreiben, noch waren sie in der Lage, als Erwachsene ihren eigenen Weg zu gehen. Weikart, der als Schulpsychologe angestellt war, nahm das, was damals als pädagogisch vorbildlich galt, genau unter die Lupe. Als promovierter Pädagoge und Psychologe kannte er sich mit den verschiedenen pädagogischen Theorien und Ansätzen aus. Sein Ziel war es nun, einen Bildungsplan zu entwickeln, der besonders Kindern aus sozial schwierigen Gebieten zu besserem Erfolg in den klassischen Schulfächern verhelfen sollte. Vor allem aber sollten ihnen auch die Fähigkeiten vermittelt werden, die sie später als Erwachsene brauchen würden, um ihr Leben zu meistern. Wie aber sollten alle diese Ideen unter einen Hut gebracht werden? Dies geschah bei der Umsetzung seiner Theorie in die Praxis. Hier wurde reflektiert, angepasst und neu formuliert. Zusammen mit Kollegen initiierte Weikart ein Vorschul-Experiment. Die Lernfortschritte der Kinder, die an der Vorschule teilnahmen wurden mit den Lernfortschritten von Kindern verglichen, die bis zur Einschulung zu Hause blieben. Dies war der Anfang des High/Scope Ansatzes.

Der Erfolg von Weikarts Ansatz zeigte sich in den Statistiken, die im Laufe der Jahre erstellt wurden: Seine High/Scope-Kinder waren beständiger in ihren Berufen, hatten höhere Einkommen, niedrigere Straffälligkeit und waren seltener auf Sozialleistungen angewiesen. Kinder aus den sozialen Brennpunkten in Ypsilanti begannen, schulisch und beruflich erfolgreich zu sein. Auf diese Weise begann der High/Scope Ansatz an Anhängern zu gewinnen. Bald wurde man auch auf dieser Seite des Atlantik aufmerksam. In London begannen sich Erzieherinnen für die neue Methode aus den USA zu interessieren und 1979 kam ein amerikanisches High/Scope Team nach England, um dort zwölf erfahrenen Erzieherinnen und Erziehern zu High/Scope Trainern auszubilden. (Meine Ausbilderin Margaret, von der ich eingangs erzählt habe, wurde von einem dieser zwölf Ausbildern der ersten Generation ausgebildet.) Auch in England fand der Ansatz viel Anklang, und mittlerweile gibt es dort 20.000 Erzieher und Erzieherinnen, die den High/Scope Ansatz ganz oder teilweise praktizieren. Auch in den Augen der staatlichen Bildungsbehörde OFSTED, deren Kontrolle und Bewertung sich jede Bildungseinrichtung in Großbritannien regelmäßig unterziehen muss, genießt er hohes Ansehen.

Das Rad des aktiven Lernens: High/Scope wird oft als Rad dargestellt, das sich um die Achse des aktiven Lernens dreht – Lernen durch aktive Auseinandersetzung mit Menschen, Material, Ereignissen und Ideen. Es gibt Listen mit empfohlenen „Schlüsselerfahrungen“ (58 an der Zahl), die in den High/Scope Bildungsplan integriert sind, um die geistige, körperliche, soziale und emotionale Entwicklung der Kinder zu fördern. Diese Schlüsselerfahrungen sind in zehn Kategorien aufgeteilt: Kreative Darstellung, Sprache und Literacy, Initiative und soziale Beziehungen, Bewegung, Musik, Klassifikation, Anordnung, Zahl, Raum und Zeit.

Das Rad des aktiven Lernens von High/Scope hat vier „Speichen“: Erwachsener-Kind- Interaktion, Lernumgebung, tägliche Routine und Beurteilung.

Erwachsener-Kind-Interaktion: High/Scope ErzieherInnen sehen sich nicht als Vorgesetzte, sondern als Freunde und Partner der Kinder. Sie unterstützen die Kinder bei der Wahl von Aktivitäten, spielen mit ihnen auf dem Entwicklungsniveau der Kinder, heben deren Stärken hervor und ermutigen sie, Lösungen für ihre Probleme zu finden: „Georg kann seine Schürze nicht alleine anziehen! Was können wir tun, um ihm zu helfen?“ Wenn es Konflikte zwischen den Kindern gibt, helfen die Erwachsenen ihnen dabei, über die Situation zu reden anstatt zu bestrafen oder ein Kind aus der Gruppe zu isolieren. Konflikte werden deshalb als Gelegenheiten betrachtet, die sozialen Kompetenzen der Kinder zu stärken und ihnen die Auswirkungen ihrer Handlungen auf andere zu verdeutlichen.

Nursery teacher with three young children around a table

Lernumgebung: Kinder haben ein angeborenes Interesse daran, ihre Welt zu verstehen, und High/Scope-Einrichtungen fördern spontane Entdeckungen durch sorgfältige Vorbereitung der Lernumgebung. Es wird viel darüber reflektiert, welches Material und welche Räume bzw. Aktivitätsbereiche hilfreich sind, um das eigenaktive Lernen der Kinder zu fördern. Klar und übersichtlich werden Bereiche eingerichtet z.B. für Bau- und Konstruktionsspiel, Kunst und Kreativarbeit, Rollenspiel, Sand und Wasser-Spiel, Lesen und Schreiben. Materialien werden, für Kinder erreichbar, dort aufbewahrt, wo sie gebraucht werden, meist in durchsichtigen Kästen, die mit einfach zu verstehenden Symbolen beschriftet sind.

Tägliche Routine: Kinder brauchen die Sicherheit von verlässlich wiederkehrenden Abläufen. Diesem Bedürfnis wird bei High/Scope nicht nur durch die sorgfältige Vorbereitung der Lernumgebung, sondern auch durch eine tägliche Routine entsprochen. Diese Routine hilft Kindern dabei, sich den Abläufen des Tages gegenüber als kompetent und souverän zu erleben. Ungewöhnliche Ereignisse wie zum Beispiel Ausflüge werden mindestens am Vortag angekündigt, so dass die Kinder Gelegenheit haben, sich darauf einzustellen und sich nicht als machtlos und von unbeherrschbaren Vorfällen überrollt erleben müssen. Dies ist besonders wichtig, weil der High/Scope Ansatz Kinder unterstützen möchte, die aus sozial schwierigen Verhältnissen stammen und deren Elternhäuser oft nur wenig an verlässlicher Struktur und Routine bieten. Weitere wichtige Elemente der täglichen Routine sind Spiel im Freien und der Wechsel zwischen Kleingruppe und Großgruppe.

Three nursery-aged children working with planning boards on the floor

Beurteilung: High/Scope ErzieherInnen setzen auf Teamarbeit, um den Kindern die Idee von Verständigung und Miteinander zu vermitteln. Sie schreiben regelmäßig kleine Alltagsgeschichten aus dem Leben der Kinder auf. Diese Dokumentation der kindlichen Aktivitäten wird dann benutzt, um Pläne zu erstellen, wie das Lernen des betreffenden Kindes unterstützt und erweitert werden kann. Außerdem werden auf der Grundlage dieser Aufzeichnungen die Eltern einbezogen um eine Kooperation zwischen Eltern und Einrichtung auszubauen. Aus den täglichen Beobachtungen wird ein Bericht erstellt, der herangezogen wird, um die langfristige Entwicklung der Kinder zu verfolgen und beurteilen.

Unser Kurs war auf lediglich drei Stunden beschränkt und so konnten unsere Fortbildnerinnen nur einen ersten Einblick in den High/Scope Ansatz geben. Im Laufe des Kurses erzählten uns Margaret und Jan Beispiele, durch die die Theorie des Ansatzes anschaulich wurde. Zum Beispiel gibt es die Empfehlung, Kinder aus einer gewissen Entfernung zu beobachten, um mehr über sie zu lernen. Wenn ErzieherInnen sich zurücknehmen und Kindern die Wahl ihrer Aktivität überlassen (anstatt sie bei der Wahl anzuleiten), können die Kinder oft erstaunliche Fortschritte machen. Margaret erzählte uns von einem kleinen Mädchen, das ich hier Susi nennen möchte. Ihre Gruppe fieberte voll Erwartung einem Ausflug in den Zoo entgegen. Die ErzieherInnen sprachen mit den Kindern über all die Tiere, die die Kinder dort sehen würden. Aber Susi interessierte sich nur für ein Tier, und als sie in den Zoo kamen, schaute sie sich nur dieses eine Tier an: Den Gorilla. Und was war das für ein Gorilla! Susi redete normalerweise wie ein Wasserfall – pausenlos, von morgens bis abends. Aber als sie den Gorilla sah, war sie plötzlich vollkommen still. Der Gorilla stand vor seiner kleinen Bewunderin: Riesengroß, ziemlich stark riechend und Grimassen schneidend. So sahen sie sich an, das kleine Mädchen und der Gorilla. Margaret beobachtete die beiden, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die anderen ErzieherInnen mit der Gruppe zurechtkamen: Fünf Minuten … zehn … fünfzehn… So lange starrte Susi den Riesen aus ihren Träumen an.

Dann war es vorbei. Der Ausflug hatte alles gebracht, was Susi sich erhofft hatte. Die Krokodile, Tiger und Elefanten ließ sie links liegen, und während der nächsten Wochen war sie mit der Verarbeitung ihrer Begegnung mit dem Gorilla beschäftigt: In Gesprächen, Klebebildern und vor allem beim Malen von Bildern. Vor dem Ausflug war sie beim Malen immer eher gehemmt und unsicher gewesen, aber nun hatte sich eine neue Welt vor ihr geöffnet. Susi begann, sich mehr zu trauen. Sie hatte sich ganz ungestört auf etwas konzentrieren können, was sie interessiert hatte, und jetzt konnte sie sich selbständig einen wichtigen Lernbereich erschließen: bildnerisches Gestalten.

Etwas Ähnliches war bei einem Jungen geschehen, der zunächst beim Schreiben Probleme hatte und sich deshalb immer die Bausteinecke zurückzog. Das Team war besorgt: Würde Jerry sich zu einseitig entwickeln? Dann hängten sie architektonische Pläne und Zeichnungen von Gebäuden in der Bauecke auf und legten Schreibblock und Bleistift bereit. Eines Tages, nachdem er wochenlang Burgen und Festungen gebaut hatte, nahm Jerry Bleistift und Block und begann zu „schreiben“. Von da an dauerte es nicht mehr lange, bis er sich aus der Bauecke heraus traute und in anderen Bereichen mitspielte. Das „Schreiben“ behielt er bei. Es war ihm gelungen, seine Angst zu überwinden, weil man ihm ermöglicht hatte, etwas zu tun, womit er sich sicher fühlte und etwas Neues auszuprobieren, ohne diese sichere Basis verlassen zu müssen.

Der High/Scope Ansatz ist nicht auf den Elementarbereich beschränkt: Weikart hat ihn auch mit älteren Kindern benutzt und unsere Fortbildnerin Jan hat ihn erfolgreich in der Sonderpädagogik verwendet. Ihr zufolge ist die Idee auch noch bei Teenagern gültig: ihnen zu helfen, sich für ihre Entscheidungen verantwortlich zu fühlen.

Wer sich näher mit High/Scope beschäftigt, wird vielleicht erkennen, dass er oder sie schon viele Elemente daraus in der täglichen Praxis verwendet, sie aber noch nicht als zusammenhängende Theorie formuliert oder als umfassendes System angewendet hat. Aber genau das ist High/Scope: Ein umfassender Ansatz, den man nicht „ab 11 Uhr“ oder „dienstags“ anschalten kann – hier hat es in der Vergangenheit oft Missverständnisse gegeben.

Am Ende seien hier noch die Statistiken erwähnt, die den Erfolg des High/Scope Ansatzes eindrucksvoll belegen. Mittlerweile sind die damaligen „High/Scope Kinder“ Mitte vierzig und vor einigen Jahren wurden die Ergebnisse der Studie veröffentlicht, die den Lebensweg dieser Menschen begleitet. Aus den Ergebnissen geht hervor, dass Menschen, die mit Weikarts Ansatz aufgewachsen sind, das Leben in allen nachfolgenden Phasen besser bewältigen konnten, angefangen mit regelmäßigerem Erledigen von Hausaufgaben  über das Erlangen eines Schulabschlusses bis hin zu niedrigeren Verhaftungsraten als Erwachsene und stabileren Ehen.

Kinder so zu fördern, dass sie als Erwachsene ein erfülltes Leben führen, sich ihres Selbstwertes bewusst und sicher sind und mit anderen Menschen auskommen können, ist sicherlich der Wunsch einer jeden Erzieherin und eines jeden Erziehers.

Neben einem pädagogischen Programm kommt dem High/Scope Ansatz eine Pionierrolle bei der wissenschaftlichen Überprüfung seiner Auswirkung zu. Hier wurde in einer aufwändigen Panel-Studie nachgewiesen, dass hohe Qualität in der Elementarpädagogik Auswirkungen auf die Lebensqualität der Menschen bis ins Erwachsenenalter hinein hat. Auch volkswirtschaftlich geht diese Rechnung auf: Einer Studie zufolge flossen für jeden US-Dollar, der in die High/Scope Früherziehung investiert wurde über 7 US-Dollar in die öffentlichen Kassen zurück.

Quellen:

Handreichungen eines Seminars von Margaret Beech and Jan Dunwoodie in Newcastle upon Tyne, England

High/Scope Approach for the Under Threes (1999) Video. 70 Minuten. High/Scope Institute, London.

Mary Hohmann and David P. Weikart (1995). Educating Young Children, High/Scope Press

Jacalyn Post and Mary Hohmann (2000). Tender Care and Early Learning: Supporting Infants and Toddlers in Child Care Settings, High/Scope Press

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Ausbildung, Weiterbildung