Artikel

Einladungen und Provokationen in der Reggio-Pädagogik

Was bedeuten diese beiden Begriffe?

Diane Kashin | Januar 2023

Glasmurmeln, Muscheln und andere Materialien, angeordnet in einem runden Holzrahmen

Neulich fragte jemand in einer Facebook-Gruppe nach Fotos mit Provokationen. Als Antwort darauf wurden inspirierende Bilder von Arrangements auf Tischen und großen Spieltabletts geteilt. Was sie alle gemeinsam hatten, war, wie absichtsvoll und gezielt die Materialien ausgestellt waren. Die Materialien wurden auf ästhetisch ansprechende, fotogene Weise ausgewählt und präsentiert, um bewusst Neugierde zu wecken.

Das Konzept, Provokationen in der Frühpädagogik zu verwenden, ist nicht neu. Schon seit Fröbels erstem Kindergarten werden Materialien zur Unterstützung des Lernens eingesetzt. Materialien beeinflussen, wie sich Bedeutung zwischen Individuen entwickelt, indem sie symbolischen kognitiven Werkzeugen wie Buchstaben, Zahlen oder Wörtern eine gemeinsame Bedeutung verleihen.

Materialien sind der Text der Frühpädagogik. Im Gegensatz zu Büchern, die mit Fakten gefüllt und mit Worten bedruckt sind, haben die Materialien eher den Charakter von Skizzen. Sie bieten Zugänge und Wege, durch die Kinder in die Welt des Wissens eintreten können. Materialien werden zu Werkzeugen, mit denen die Kinder ihrem Verständnis der Welt und den von ihnen konstruierten Bedeutungen Gestalt geben und sie zum Ausdruck bringen. Harriet Cuffaro

Pädagogen aus Reggio Emilia sprechen von den hundert Sprachen von Materialien, die sich im Laufe der Zeit entwickeln können, wenn sie in der Umgebung platziert werden. Wygotski vertrat die Ansicht, dass die Art der ausgewählten Materialien die Entwicklung höherer geistiger Prozesse fördert. Wie die Materialien verwendet werden, wer sie verwendet, wo sie platziert sind und wann sie angeboten werden, sind dabei wichtige Fragen. Am wichtigsten ist vielleicht die Frage: „Warum gerade diese Materialien?“

Eine Collage aus losen Teilen, die zum Spielen und Experimentieren einlädtMaterialien werden seit langem zur Unterstützung des Lernens eingesetzt

Das Problem mit all den schönen „Provokationen“, die überall in den sozialen Medien geteilt werden, ist, dass wir den Kontext nicht vollständig verstehen können. Was wird provoziert? Die Interessen der Kinder, ihr Handeln, ihr Denken? Soll das Interesse vertieft, die Handlungsfähigkeit erhöht und/oder höhere Denkprozesse angeregt werden? Inwieweit ist ein Erwachsener bei den Erfahrungen des Kindes mit der Provokation präsent und involviert? Auch wenn ich die Motivation für das, was in den sozialen Medien geteilt und als Provokation bezeichnet wird, nicht weiß, habe ich den Eindruck, dass die Präsentation einer ästhetisch ansprechenden, fotogenen Auswahl von Materialien mit Stolz und Freude verbunden ist. Die Frage, die sich mir stellt, ist: „Für wen ist die Provokation?“ Wenn sie nicht von den Kindern kommt, aus ihren Ideen, Fragen, Gedanken, Theorien und Interessen stammt, woher kommt sie dann? Entspringt sie aus dem Wunsch, die eigene Kreativität mitzuteilen? Entsteht sie aus dem Wunsch, der pädagogischen Konzeption Genüge zu tun und die Ergebnisse zu verkünden?

Eines ist klar: Ich fühle mich provoziert, wenn ich diese Fragen in den Raum stelle! Aber es ist eine gute Art, provoziert zu sein, weil es eine Art professioneller Selbstreflexion auslöst. Wenn Sie an Einladungen und Provokationen denken, was ist Ihrer Meinung nach am wichtigsten? Welches Verhältnis besteht zwischen einer Einladung und einer Provokation?

Was ist eine Einladung?

Eine Einladung ist der Akt des Einladens oder des Vorstellens einer Situation, die verlockend ist. Ich glaube, dass alles, was wir mit Kindern tun, einladend sein sollte, um die Prämisse zu unterstützen, dass Kinder durch Spielen lernen. Spiel ist frei gewählt. Wenn Kinder Zugang zu unstrukturiertem Spiel haben, das wirklich von Kindern geleitet wird, haben sie die Kontrolle über das Spielgeschehen. Selbstbestimmtes Spiel fördert die Handlungskompetenz der Kinder und regt sie zum Lernen an. Handlungsfähigkeit ist die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, wenn man vor eine Wahl gestellt ist.

Wenn ein Erwachsener absichtlich Materialien für Kinder bereitstellt, die so gestaltet sind, dass sie zum Lernen anregen, muss das Kind dennoch die Möglichkeit haben, seinen eigenen Ideen zu folgen, ohne dass der Erwachsene die Ergebnisse vorgibt. Wenn das Kind sich entscheidet, mit den vorgestellten Materialien zu interagieren, hat es die Einladung angenommen. Wenn dieser Funke zu vertiefter Beschäftigung mit dem Material führt, dann haben Sie eine Provokation.

Was passiert, wenn Kinder ganz anders reagieren als erwartet? Diese Fragen sollten dazu führen, dass wir die Situation reflektieren und uns hinterfragen. Wenn die Einladung nicht angenommen wird, ist dies eine Gelegenheit, über die Gründe nachzudenken. Könnte es sein, dass die Kinder einfach nicht interessiert waren? War die Einladung nicht sichtbar genug?

Materialien, die zu einer Einladung im Sinne der Reggio-Pädagogik arrangiert sindEine Einladung: Die bewusste Bereitstellung von Materialien, die zum Lernen anregen sollen.

Was ist eine Provokation?

Eine Einladung, auf die reagiert wurde, ist eine Provokation. Eine Provokation ist etwas, das zum Handeln und zum Denken anregt. Provokationen sind von Natur aus nuanciert und komplex. Sie können belebt oder unbelebt sein. Sie können konkret oder abstrakt sein. Provokationen können einfach ein verbaler Austausch zwischen dem Kind und dem Erzieher sein, der der „Provokateur“ ist. Das Konzept der Provokation ist nicht so simpel, wie es oft dargestellt wird.

Ich wünschte, ich wüsste die ganze Entstehungsgeschichte des Begriffs „Provokation“ im Kontext der Frühpädagogik. Soweit ich sehen kann, wird der Begriff der Provokation weiterhin mit den Schulen von Reggio Emilia in Verbindung gebracht. Aber als ich bei meinem letzten Besuch im Jahr 2018 aufmerksam lauschte, um das Wort „Provokation“ zu hören, hatte ich keinen Erfolg. Ich habe allerdings oft das Wort „Vorschlag“ gehört. Ein Vorschlag ist eine Handlung, bei der etwas zur Diskussion gestellt oder dargelegt wird. 1990 beschrieb Rebecca New, wie in Reggio Emilia geforscht wird. Sie erklärte, dass die Kinder viele Gelegenheiten hatten, ihr Spielen und Lernen bildlich darzustellen. „Die Ergebnisse des Spielens und Experimentierens der Kinder werden durch Bilder und Zeichnungen dargestellt. Die Erzieherin macht mit, indem sie die Kinder vor eine Herausforderung stellt, eine sogenannte Provokation.“

Wir sehen, dass eine Provokation so viel mehr ist als ein Instagram-perfektes Foto. Es geht um mehr als diese schönen, absichtlich und zielgerichtet aufgestellten Tische mit Materialien und einem Begleitbuch oder Aufforderungen wie „Was siehst du?“ Oder: „Kannst du ein Muster machen?“ Der Erwachsene, der die „Provokation“ vornimmt, hat etwas Bestimmtes im Sinn, um das Wissen und die Erfahrungen des Kindes absichtlich zu erweitern.

Ein Junge hat die Reggio-Einladung angenommenProvokation: Eine Einladung, die angenommen wurde und zum Handeln und zum Nachdenken anregt.

Einladungen in Ihrem Gruppenraum

Platzierung

Strong-Wilson und Ellis schlugen 2007 vor, Provokationen einzuführen, z. B. „kleine Spiegel im Raum aufzustellen oder Staffeleien in der Nähe von natürlichem Sonnenlicht zu platzieren“ oder „einen Pizzakarton in die Küchenecke zu legen, Papier und Bleistift in die Bausteinecke“. Andere vorgeschlagene Strategien sind das Mitbringen realistischer Gegenstände, die die Kinder in ihrem Spiel verwenden können, wie z. B. echtes Geschirr oder Küchenutensilien. Provokationen können so einfach sein wie das Aufhängen einer Spiegelkugel im Raum, die das natürliche Sonnenlicht reflektiert und eine Diskussion auslöst. Die Kugel wird dabei absichtlich so platziert, dass sie die Sonnenstrahlen optimal einfängt.

Aufbewahrung

Auch die Art und Weise, wie ein Gegenstand aufbewahrt wird, kann eine Provokation darstellen. In transparenten Behältern bereitgestellte Materialien regen die Neugier und Fantasie der Kinder an. Behälter mit Unterteilungen wie Muffin-Backformen oder Setzkästen regen zum Sortieren nach Farbe oder Textur an. Wenn die Materialien leicht zugänglich und gut sichtbar sind, reagieren die Kinder möglicherweise in einer Weise auf die Materialien, die wir nicht erwartet hätten.

Ein Mädchen schaut in einem Regal nach MaterialienLeicht nach vorne geneigte Regalböden und Kästen mit durchsichtigen Enden bieten ein visuelles Büfett auf Höhe der Kinder

Ein mobiles Regal mit einer durchsichtigen Kunststoffwanne zur Präsentation von MaterialienOffene, gut einsehbare Behälter laden am besten zum Entdecken ein.

Zeit

Ein weiteres wichtiges Element von Provokationen ist die Zeit. Werden die einladenden Materialien nur einen Tag zur Verfügung gestellt, oder bleiben sie über mehrere Wochen in der Einrichtung? Wie oft werden neue Provokationen angeboten? Wenn jeden Tag neue Provokationen angeboten werden, reicht die Zeit nicht wirklich aus, um sich umfassend auf sie einzulassen. Man braucht Zeit, um zu experimentieren und Theorien und Ideen zu formulieren. Die Dokumentation erfordert Zeit. Es wird Zeit benötigt, um genauer zu überlegen, wie man weiterhin provozieren, aufrütteln und anregen kann.

Berufliche Weiterentwicklung

Ich lade Sie ein, Provokationen als Mittel zu nutzen, um Ihre eigene fachliche Weiterentwicklung zu fördern. Beginnen Sie mit einer Einladung an die Kinder, z. B. durch eine gezielte Zusammenstellung von Materialien mit einer schriftlichen Aufforderung oder durch ein bewusst platziertes Objekt, das die Neugierde der Kinder weckt. Beobachten und dokumentieren Sie, wie die Kinder darauf reagieren. Wenn die Kinder darauf reagieren, wird es zu einer Provokation. Wenn die Reaktion anders ausfällt als erwartet oder wenn die Kinder gar nicht reagieren, ist dies eine Gelegenheit, über die Gründe dafür nachzudenken. Darin liegt meines Erachtens der größte Nutzen von Provokationen, wie auch immer man den Begriff definiert.

Zwei Kinder experimentieren an einem Tisch mit losen Teilen

Literaturhinweise

New, Rebecca S. 1989. Projects and Provocations: Preschool Curriculum Ideas from Reggio Emilia Italy. [Syracuse University]. Educational Resources Information Center (ERIC). https://files.eric.ed.gov/fulltext/ED318565.pdf

Strong-Wilson, Teresa and Julia Ellis. Children and Place: Reggio Emilia”s Environment As Third Teacher. Theory Into Practice 46(1) S. 40–47 http://extendeddayresources.pbworks.com/w/file/fetch/110106670/Strong-Wilson%202007.pdf

Cuffaro, Harriet K. 1995. Experimenting with the World: John Dewey and the Early Childhood Classroom. Teachers College Press.

Themen
Reggio
Alter
Elementarbereich
Verwendung
Weiterbildung