Den Zappeldrang austricksen
| Juni 2025Wenn Kinder in die Grundschule kommen, wird erwartet, dass sie zum Lernen stillsitzen können. Wenn Körper und Geist ruhig sind, lernen sie aufmerksamer und sind für neues Wissen empfänglicher. Doch warum haben so viele Kinder „Hummeln im Hintern“, und was sind die Gründe für diese Unruhe?
Wie sich herausgestellt hat, ist Bewegungsmangel in der frühen Kindheit häufig eine Ursache des Zappeldrangs.
Das Problem mit dem Stillsitzen
In früheren Generationen verbrachten kleine Kinder wesentlich mehr Zeit mit grobmotorischem Spiel. Seit Anfang der 2000er Jahre zeigt sich jedoch ein grundlegender kultureller Wandel: weg vom selbstbestimmten Freispiel, hin zu sitzenden Aktivitäten.
Doch warum ist das Stillsitzen so problematisch?
Erstens schwächt es unsere Kinder. Eine australische Studie aus dem Jahr 2013 ergab, dass die Herz-Kreislauf-Ausdauer bei Kindern pro Jahrzehnt um 5 % sinkt. 2013 brauchten Kinder 90 Sekunden länger, um eine Meile zu laufen, als in den 1980er Jahren. Damit war die kardiovaskuläre Fitness der Kinder um 15 % geringer als die ihrer Eltern.
Darüber hinaus ergab eine britische Studie aus dem Jahr 2014, dass die Rumpfmuskulatur bei Kindern zunehmend schwächer wird. Zwischen 1998 und 2008 nahm die Rumpfstärke jährlich um 2,6 % ab, und zwischen 2008 und 2014 ging sie jedes Jahr um 3,9 % zurück. Seit der Veröffentlichung dieser Studien ist ein weiteres Jahrzehnt vergangen, und wir haben eine Pandemie hinter uns. Daher dürften die Zahlen heute noch beunruhigender sein. Doch für ihre körperliche und geistige Entwicklung brauchen Kinder im 21. Jahrhundert dasselbe wie frühere Generationen: Bewegung.
Bei Kleinkindern dominiert nach der Geburt zunächst die rechte Gehirnhälfte. Im Laufe der Zeit wird das Gehirn ausgewogener; die rechte und die linke Gehirnhälfte beginnen zu kommunizieren und zu koordinieren. Dieses Gleichgewicht hilft Kindern, sich in einer logischeren, weniger emotionalen Welt zurechtzufinden. Die beste Methode, diese Kommunikation zwischen den Gehirnhälften zu fördern, ist Bewegung – je intensiver, desto besser. Einfach ausgedrückt: Grobmotorisches Spiel fördert die Intelligenz.
Und grobmotorische Bewegung legt nicht nur den Grundstein für schulischen Erfolg, sondern stärkt ganz natürlich das Herz-Kreislauf-System und die Rumpfmuskulatur. Sie übt Druck auf die Gelenke aus und bewegt den Kopf durch verschiedene Ebenen, was die propriozeptive und die vestibuläre Entwicklung fördert.
Aerobe Bewegung
Betrachten wir die aerobe Bewegung. Sie verbessert die kardiovaskuläre Fitness, denn die großen Muskeln im Körper sorgen dafür, dass mehr sauerstoffreiches Blut durch den Kreislauf fließt. Dies verbessert die Stärke und Kapazität von Herz und Lunge. Aerobe Aktivitäten wirken sich aber auch auf das Gehirn aus: Sie führen zur Freisetzung des Wachstumsfaktors BDNF („Brain Derived Neurotropic Factor“), eines Proteins, das neue neuronale Verbindungen aufbaut, insbesondere in dem Bereich, der mit der exekutiven Funktion in Verbindung steht. BDNF fördert Wahrnehmung, Erinnerungsvermögen und Motivation, was wiederum die Spielqualität und die Kommunikationsfähigkeiten von Kindern verbessert.
In früheren Generationen gehörte die Herz-Kreislauf-Ausdauer zu traditionellen Spielen wie Fangen oder Kettenbrechen dazu, ebenso wie sie beim Anschieben des Drehkarussells auf dem Spielplatz oder bei stundenlangem Fahrradfahren gebraucht wurde. Ohne ausreichende Bewegung entwickeln Kinder keine kardiovaskuläre Ausdauer. Das beeinträchtigt nicht nur ihre Gesundheit, sondern auch das Verhalten und erschwert später das Lernen.
Rumpfstärke
Auch die Stärke der Rumpfmuskulatur ist für die kindliche Entwicklung von enormer Bedeutung. Ein starker Rumpf sorgt für geschmeidige, gut kontrollierte Bewegungen der Gliedmaßen. Bei Erwachsenen ist eine starke Rumpfmuskulatur entscheidend für funktionelle Bewegungen, beispielsweise beim Schwingen eines Golfschlägers oder beim Tragen von Wäschekörben. Bei Kindern fördert eine starke Rumpfmuskulatur die positive Teilnahme am aktiven Spiel und damit wiederum den späteren akademischen Erfolg. Ein Kind mit schwacher Rumpfmuskulatur wird mit beidem zu kämpfen haben, was beim Spielen zu einem Verlust an Selbstvertrauen und später zu schulischen Problemen führt.
Wenn Kinder in die Grundschule kommen, wird erwartet, dass sie über längere Zeit am Tisch sitzen. Ohne eine starke Rumpfmuskulatur ist das Sitzen unbequem. Das führt zu Unruhe und Zappeln – also den gefürchteten „Hummeln im Hintern“: Es lenkt ab und beeinträchtigt die Aufmerksamkeit im Unterricht.
In früheren Generationen bauten Kinder ihre Rumpfmuskulatur bei allen möglichen Spielen auf: beim Schaukeln, Rutschen, Klettern, beim Höhlenbauen, Graben im Sand und Turnen am Klettergerüst. Doch Kinder, die sich nicht ausreichend bewegen, können diese Stärke nicht entwickeln. Sie werden unruhig, weil ihnen das Sitzen Unbehagen bereitet; so werden die Aufgaben in der Schule noch schwieriger.
Bei Bewegungsmangel hat der Körper zudem weniger Gelegenheit, seine Umgebung zu erkunden und wichtige Informationen an das Gehirn weiterzuleiten. Kulturell neigen wir dazu, den Körper einfach als Gehäuse zu betrachten, das unser fleißiges Gehirn herumträgt. In Wahrheit braucht das Gehirn den Körper, um sich zu entwickeln. Bewegung informiert und prägt das Gehirn in vielerlei Hinsicht und fördert so das Lernen.
Gefühl für Kraft
Betrachten wir das propriozeptive System, das in den Gelenken angesiedelt ist und Kindern ein Gefühl für Kraft vermittelt. Durch verschiedene spielerische Erfahrungen lernen Kinder den Unterschied zwischen der Kraft kennen, die notwendig ist, um ein Kätzchen zu streicheln, und der Kraft, mit der ein Ball getreten werden muss. Sie lernen, wie viel Kraft sie brauchen, um Knetmasse zu quetschen, und wie sanft sie den Bleistift auf das Papier drücken müssen, um die Spitze nicht abzubrechen.
Wenn Kinder nicht schieben, ziehen, springen oder klettern, üben sie keinen Druck auf ihre Gelenke aus. Diese begrenzte physische Erfahrung beeinträchtigt die Entwicklung des propriozeptiven Systems und des Kraftempfindens, sodass Kinder zu viel Kraft (schlagen statt antippen) oder zu wenig (antippen statt drücken) einsetzen. Ohne ausreichend Bewegung für die Entwicklung des propriozeptiven Systems sucht das kindliche Gehirn diesen Stimulus auf andere, weniger produktive Weise: Schläge gegen Wände und Böden, ausufernde Raufereien oder Umwerfen von schweren Gegenständen. Diese Verhaltensweisen wirken vielleicht wie schlechtes Betragen, fehlende Selbstregulierung oder ein Mangel an Selbstbeherrschung. Kinder, die ein solches Verhalten an den Tag legen, suchen jedoch wahrscheinlich nur verzweifelt nach wichtigen Informationen über ihren Körper und darüber, wie sie ihn einsetzen müssen. Bewegung ist die einzige Quelle dieser grundlegenden Informationen.
Gleichgewicht und Bewegung
Wenn Kinder stillsitzen, verbringen sie viel Zeit in aufrechter Haltung. Doch Kinder müssen ihren Kopf auf verschiedenen Ebenen und in verschiedene Richtungen bewegen, um ihr vestibuläres System zu entwickeln, das im Innenohr angesiedelt ist. Dieses System regelt den Bewegungs- und Gleichgewichtssinn. Wenn es gut entwickelt ist, wissen Kinder automatisch, dass der Rest der Welt stillsteht, während sie sich bewegen. Dieser Sinn wird am besten durch schnelles im Kreis Drehen, Schaukeln, Rutschen, kopfüber Hängen, Baumstammrollen und Radschlagen entwickelt. Diese Bewegungen trainieren den Fokus von Kindern, also die Fähigkeit, bei Bewegungen stetig in eine Richtung zu blicken, sodass sie im Gleichgewicht bleiben.
Erwachsene, deren vestibuläres System durch eine Infektion oder einen Schlaganfall geschädigt wurde, berichten, dass es sich anfühlt, als sei die Welt ständig in Bewegung. Stellen Sie sich vor, ein Kind versucht, eine Leiter an einer Rutsche hochzuklettern, die sich zu bewegen scheint. Später in der Schule führen Probleme beim Fokussieren dazu, dass Buchstaben und Zahlen auf der Seite oder der Tafel tanzen, sodass Lesen, Schreiben und Rechnen schwer zu meistern sind.
Darüber hinaus ist das vestibuläre System Teil der menschlichen Datenverwaltung. Kinder werden den ganzen Tag lang mit Informationen bombardiert, aber ein starkes vestibuläres System hilft ihnen, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Ohne diesen Filterprozess sind alle sensorischen Informationen gleich wichtig. Das Brummen der Klimaanlage ist ebenso bedeutend wie die Stimme der Lehrerin, und die Welt ist schlicht überwältigend. Die einzige mögliche Reaktion besteht darin abzuschalten. Das vestibuläre System kann dann nur durch Bewegung wieder eingeschaltet werden – viel Bewegung, auf vielerlei Weise.
Statt abzuschalten, sind viele Kinder mit schwachem vestibulärem System konstant in Bewegung. Sie laufen oder drehen sich im Kreis, um ihrem Gehirn die Informationen zu geben, die sie dringend brauchen, um zu fokussieren und Daten zu verwalten. Und welchen Eindruck macht diese Bewegung im Klassenzimmer? Sie wirkt wie schlechtes Betragen, fehlende Selbstregulierung und mangelnde Selbstbeherrschung. Tatsächlich jedoch verlangt das Gehirn nach Informationen über den Körper und seine Verwendung. Gesunde propriozeptive und vestibuläre Systeme bilden die Grundlage für vielfältiges Spielen und Lernen.
Spielideen:
Herz-Kreislauf-Ausdauer:
Fangspiele: Fangspiele gibt es in zahllosen Varianten, und Kinder lieben sie alle. Selbst Kleinkinder sind begeistert, wenn sie anderen hinterherjagen können.
Rumpfmuskulatur:
Jedes Spiel, das den gesamten Körper einbezieht, stärkt die Rumpfmuskulatur von Kindern, vom Bärenkrabbeln über Fahrradfahren bis hin zum Schwimmen. Spielplätze bieten die Möglichkeit, aus Baumstümpfen und Ästen Höhlen zu bauen oder auf Bäume zu klettern. Ganzkörperaktivtäten stärken den Rumpf.
Propriozeptives System:
Schwere körperliche Aktivitäten und anstrengendes Spiel stärken das propriozeptive System von Kindern. Hier einige Beispiele: den Müll hinaustragen, Recycling-Abfälle kleinstampfen, Wäschekörbe tragen, einen Hang hinauflaufen, vom Klettergerüst hängen, klettern, Eimer mit Sand oder Wasser tragen, einen vollen Bollerwagen oder Schlitten schieben oder ziehen.
Vestibuläres System:
Aktivitäten, die das vestibuläre System stärken: Schaukeln, Rutschen, kopfüber Hängen, schnelles Drehen im Kreis, Rollerbrettfahren, Rodeln, Wagenschieben, Purzelbäume, Baumstammrollen, Radschlagen, Bärenkrabbeln.
Fazit
Grobmotorisches Spiel kostet nicht viel. Es ist angeboren. Es ist in großen und in kleinen Räumen möglich. Kinder sehnen sich danach, und Kinder brauchen es.
Leider zahlen unsere Kinder den Preis für zu wenig Spiel: mit geringerer Stärke, mehr Verhaltensproblemen und größeren schulischen Schwierigkeiten.
Schaffen wir Raum und lassen die Kinder spielen!