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Die Bewegungsbaustelle

Argumente für ein Lernen mit Kopf, Herz, Hand und Fuß

Klaus Miedzinski, Prof. Dr. Klaus Fischer | Oktober 2017

Noch vor wenigen Jahrzehnten hatten Kinder die Möglichkeit, ihre gesamte Freizeit im Freien zu verbringen. Vielerorts fanden sie naturbelassene Spielräume vor, in denen sie sich frei bewegen und die sie mit allen Sinnen wahrnehmen konnten. Im konkreten Umgang mit der Natur lernten die Kinder diese, aber auch sich selbst, ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten sowie komplexe Lebenszusammenhänge Schritt für Schritt kennen.

Kinder in den 1950er Jahren spielen draußen mit Heu

Heute gestaltet sich kindliche Freizeitgestaltung im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen in vielerlei Hinsicht anders. Die fortschreitende Bebauung ehemaliger Erkundungsräume und die Technisierung von Spielgeräten gehen einher mit der kindlichen Aneignung der Welt aus zweiter Hand. Die grundlegenden Interessen und Bedürfnisse der Kinder, die Welt über Bewegung und Wahrnehmung sinnlich zu erfahren, werden immer mehr eingeschränkt. Schon mehren sich die Hinweise auf eine Häufung von Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten der Kinder, dabei stehen Verhaltensweisen wie motorische Unruhe und ziellose Aktivität, gepaart mit Impulsivität, im Vordergrund. Diese Beschreibungen nehmen Einzug in die offiziellen Statistiken von Einschulungsuntersuchungen. Die Zahlen sind beängstigend: Etwa 20 % aller Schulanfänger sind verhaltensauffällig und aufmerksamkeitsgestört, und was viel schlimmer ist – sie werden zunehmend medikamentös behandelt. Die medikamentöse Behandlung von Kindern hat sich vor allem in den letzten Jahren verdoppelt (Resolution zum Schulsport 2001, S. 345). In dem Maß, in dem es um die schulische Karriere von Kindern geht, werden Eltern, Pädagogen, Psychologen und Mediziner hellhörig und betreiben Ursachenforschung. In jüngster Zeit werden sogar die Kultusminister aller Länder wach, weil die schwachen Lernleistungen deutscher Schüler in internationalen Vergleichsstudien unübersehbar bestätigt wurden. Das Ursachengefüge ist sicherlich komplexer Natur, aber einige Basiserkenntnisse sind nun einmal grundlegend.

Kinder brauchen Handlungsspielraum im doppelten Sinne

Nach dem Modell der Ökologie der menschlichen Entwicklung Bronfenbrenners (1981, siehe Fischer 1996) sind vor allem die unmittelbaren Lebensbereiche des Kindes entwicklungswirksam. Die Entwicklung des Kindes erfolgt durch die Beziehungsgestaltung mit relevanten Personen und zeigt sich in einer Differenzierung der Rollenidentität. Das Erkenntnisinteresse des Kindes Ist auch auf die materialen Objekte der Umgebung gerichtet und erfolgt raumbezogen.

Der Begriff der sozialräumlichen Umwelt impliziert Beziehungsmuster zwischen den räumlichen Gegebenheiten und den Menschen, die diese für sich nutzen und darin ihre gemeinsames Leben gestalten. Physikalisch gesehen ist die Welt in ihrer materialen Beschaffenheit als objektiv anzusehen, zur Umwelt wird sie erst in der Bezugnahme durch den Menschen. Umwelt ist somit ein ökopsychologisches Konstrukt, das sich erst durch die Existenz und die Tätigkeit des Menschen konstituiert.

Eine MatschkücheKreative Aneignung

Aus der Perspektive des Kindes gewinnt die Umwelt die Bedeutung des Erfahrungs- und Erprobungsraumes. Die gegenständliche Welt und die räumliche Umgebung werden nicht in ihren physikalischen Dimensionen, sondern in ihren subjektiven Sinngebungen erfahren. Lewin spricht in diesem Zusammenhang von dem Aufforderungscharakter bzw. der Valenz räumlicher Gegebenheiten. Die Aneignung der Umwelt spielt in der Entwicklung des Kindes aber eine entscheidende Rolle: Kinder eignen sich ihre Umwelt über Bewegung und Spiel an. Sie bauen so eine Beziehung zu ihr auf und verleihen ihr eine eigene Bedeutung. Durch die selbstständige Bearbeitung und Nutzung werden Spielräume zu etwas Eigenem, einem Raum, der die Aktivitäten des Kindes widerspiegelt. In diesem Prozess verändert sich nicht nur die Umwelt, sondern auch das Kind, das aktiv seine Fähigkeiten und sein Können erweitert und damit in seiner Entwicklung voranschreitet. Umweltaneignung durch Kinder ist immer verbunden mit der Möglichkeit, etwas zu verändern oder umzufunktionieren, um spielerisch neue Bedeutungszusammenhänge zu entdecken.

Dafür sind Räume notwendig, die zweckentfremdet werden können, Material zur Umgestaltung enthalten; Räume in denen Kinder ihre Spuren hinterlassen, sich der Dinge bemächtigen und selbsttätig werden können. Fantasie, Neugier und Kreativität bleiben nur dann erhalten, wenn die Kinder die Räume nach ihrem Muster entdecken und erkunden und ihnen einen neuen Sinn, unabhängig von den bisherigen Funktionszuschreibungen, geben können. Das Kind eignet sich seine Umwelt mit Hilfe seiner Wahrnehmung und seines Körpers an, quasi Schritt für Schritt ergreift es Besitz von der Welt, und indem es voranschreitet und seine Welt erkundet, erwirbt es eine Repräsentation seiner Welt. Diese Entwicklungsprozesse sind von Orten abhängig, die dem Kind vielfältige Möglichkeiten bieten, multimodale Erkundungserfahrungen zu machen und seinen Handlungsspielraum zu erweitern. Es ist also kein Wunder, wenn die Pädagogik des Kindergarten- und Grundschulalters zunehmend die Entwicklungsorientierung und die Förderung von Basiskompetenzen für die gesunde Persönlichkeitsentwicklung des Kindes akzentuiert (Textor 2000). Dabei stehen Bewegen und Erleben im Vordergrund. Die Körperlichkeit des Kindes ist das Zentrum seiner Persönlichkeit, der Dreh- und Angelpunkt seiner Existenz. Handeln schließt immer die körperliche Bewegung mit ein. Im Bewegungshandeln lernt das Kind seinen Körper kennen, damit umzugehen, ihn einzusetzen und auf die Umwelt einzuwirken. Die Orientierung am eigenen Körper ist die Basis jeder Orientierung im Raum. Zugleich ist der Körper der Spiegel psychischen Erlebens; über seinen Körper erlebt das Kind seine Befindlichkeit und bringt seine Gefühle und Bedürfnisse zum Ausdruck. So sind Körpererfahrungen eine basale Quelle kindlicher Identität. Materiale Erfahrungen strukturieren schwerpunktmäßig die kognitiv-emotionalen Entwicklungsimplikationen der räumlich-gegenständlichen Umwelt. Der Umgang vor allem mit natürlichen Materialien wird zum Medium der Erkenntnisgewinnung. Im Spiel mit unterschiedlichsten Objekten gewinnt das Kind Informationen über Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten der dinglichen Umwelt: Es erweitert seine Sach- und Handlungskompetenz.

Zwei Kinder bauen eine Burg aus Rohren, Getränkekisten und Hohlbausteinen Kinder bauen mit Alltagsmaterialien

Entscheidend für die Förderung kindlicher Handlungskompetenz sind Materialien, die die Selbstständigkeit und das kreative Spiel des Kindes provozieren. Bevorzugt werden Alltagsmaterialien in die Angebote einbezogen, um sinnvolle Bezüge zur Alltagsrealität herzustellen. Materialgestaltete Spielsituationen im Kindesalter wären etwa die Benennung, Kategorisierung, Unterscheidung von Gegenständen, der sach- und zielgerichtete Einsatz von Material, die Kombination unterschiedlicher Spielobjekte, das Transportieren, Bewegen und Verändern von Material. Vor allem die Natur (Wald, Wiese, Wasser, Schnee etc.) bietet aus bewegungspädagogischer und psychomotorischer Perspektive ein reichhaltiges Feld materialer Erfahrungen. Nur im Kontakt mit den Mitmenschen lernt der Mensch sich zu verständigen und auszudrücken. In geeigneten Situationen lernen Kinder mit Partnern zu kooperieren, Rücksicht zu nehmen, Verantwortung zu tragen, Einfühlungsvermögen zu zeigen, aber auch sich durchsetzen zu können. So sind z. B. Wagnis und Abenteuerlust psychisch erlebbare Zustände, die pädagogisch viel zu selten im Sinne der Stärkung von Selbst- und Sozialerfahrungen genutzt werden.

3 Kinder bauen gemeinsam Gemeinsames Bauen: Verhandeln, Nachgeben, Durchsetzen

Dabei ist es durchaus legitim und pädagogisch sinnvoll, etwa durch die Aufgabenstellung der Überwindung eines Hindernisses in der Natur (Erklimmen eines Hanges, Erklettern eines Baumes oder Überqueren eines Baches), oder durch das Arrangement eines Geräteparcours in der Turnhalle, bei Kindern Prozesse in Gang zu setzen, die das Selbstwertgefühl des Einzelnen stärken und die Anerkennung in der Gruppe sichern. Die Erfahrungen gemeinsam durchlebter Abenteuersituationen und der kooperativen Bewältigung komplexer Aufgabenstellungen erweisen sich für alle Kinder, vor allem aber für Kinder mit mangelnden Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen und eingeschränkter sozial-emotionaler Erlebnisqualität als persönlichkeitsbildende Gelegenheit.

Die Bewegungsbaustelle als Aneignungskonzept kindlicher Lebenswelt

Die Bewegungsbaustelle versteht sich als eine Möglichkeit, Kindern die Chance zu geben, selbsttätig ihre Bewegungsumwelt mitzugestalten, d.h. in aktiver Auseinandersetzung mehr über Eigenschaften und Handhabung von Materialien sowie über den eigenen Körper zu erfahren. Das Erlebnis der spielerischen Verwirklichung von Bauplänen und Bewegungsabsichten durch gemeinsame Bemühungen und die lustvolle Erfahrung der Bewegungsexperimente vermitteln Bewegungssicherheit und Selbstvertrauen (vergl. Miedzinski 1983, 7). Aus entwicklungspsychologischer Sicht zu beklagen sind vorgefertigte Spielsituationen für großräumige Bewegungen auf Spielplätzen (Rutsche, Wippe etc.), die die Handlungsmöglichkeiten der Kinder weitgehend festlegen und begrenzen, also nur wenige Bewegungsvariationen zulassen. Ziel des Projektes der Bewegungsbaustelle war es, Kindern eine Vielzahl an großmotorischen Bewegungserfahrungen zu ermöglichen, wie z.B. die Kraft gezielt einsetzen, kippeln, gleiten, rutschen, Gleichgewicht erproben, überwinden von Hindernissen, hindurchschlüpfen, hinaus-, hinüber- und hinuntersteigen, schaukeln und klettern. Durch den selbsttätigen Umgang mit Materialien soll es den Kindern ermöglicht werden, Wissen über Eigenschaften und Funktion ihrer materialen Umwelt zu erlangen, aber auch Gefahrenmomente zu erkennen und Bewegungssicherheit zu erleben. All diese Gedanken sprechen gegen fertige Bewegungssituationen. Das Konzept entscheidet sich für Materialien und Bauelemente, die Bewegungen herausfordern und Kinder zur Schaffung eigener Bewegungsanlässe provozieren. Diese Bauelemente fordern die Kinder zu Konstruktionen und Kombinationen heraus, zu gemeinsamem Handeln, Transportieren, gegenseitigem Helfen, Planen. Zudem gehen aus den Deutungen des jeweiligen Bewegungsanlasses auch Rollenspiele hervor.

Die Bedeutung des Handelns auf der Bewegungsbaustelle

Anders als die heutige kindliche Bewegungsumwelt bietet die Bewegungsbaustelle eine Vielzahl von Angeboten, die die kreative Aktivität des Kindes herausfordern. Die verschiedenen Bauelemente der Bewegungsbaustelle sind Situationskomponenten des Handelns, aber das Kind bleibt Entscheidungsträger der Handlung. Je nach Entwicklungsalter differenziert das Kind die Anregungen der Umwelt und wählt die persönlich bedeutsamen Handlungsangebote heraus. Dieses Angebot kann beispielsweise ein Wackelsteg sein, der aus zwei aufeinander liegenden Autoreifen und einem darauf aufgelegten Brett besteht. Das Kind wird versuchen, den Steg hinaufzubalancieren. Die Bewältigung dieser Aufgabe fördert sein Selbstvertrauen. Es erfährt, dass es die Kontrolle über diese Handlungssituation hat und wird nun selbsttätig die Schwierigkeit erhöhen, indem es beispielsweise einen dritten Reifen unter das Brett legt, möglicherweise mit der Unterstützung eines anderen Kindes. Planung im Vorschulalter erfolgt durch konkretes Handeln. Detailpläne können noch nicht verbal entworfen werden, die Sprache ist lediglich handlungsbegleitend. Handlungskonzepte erhalten die Bedeutung der gedanklichen Strukturierung und sind Vorformen der mentalen Vorausschau. Planung ist im Kindesalter als Synthese von Vorausplanung und Improvisation zu betrachten.

Kinder bauen Parcours und spielen Bewegungsspiele Parcours selbst bauen und erkunden

Gerade motorische Problemlösesituationen haben einen hohen „Aufforderungscharakter”, mit dem hohe Motivation verbunden ist. Die Bewegungsbaustelle ist aus bewegungspädagogischer und psychomotorischer Sicht eine ideale Möglichkeit für das Kind, Bewegungssituationen altersgemäß wahrzunehmen und über die handelnde Auseinandersetzung sowohl mit den Bauelementen als auch mit den anderen Kindern Ich-, Sach-, Sozialkompetenz zu erwerben und somit seine Handlungskompetenz in allen Dimensionen der Entwicklung zu erweitern.

Literatur:

Bonfenbrenner, U. (1979/1981): The ecology of human development. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. Deutsch: Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta

Fischer, K. (1996): Entwicklungspsychologische Perspektiven der Motologie des Kindesalters. Schorndorf: Hofmann

Miedzinski, K. (1983): Die Bewegungsbaustelle. Dortmund: Modernes Lernen.

Textor, M. R. (2000): Der entwicklungsgemäße Ansatz. In: Fthenakis, W. E./ Textor, M. R. (Hrsg.): Pädagogische Ansätze im Kindergarten (S. 235-248). Weinheim: Beltz.

Dieser Artikel ist dem Buch Die Neue Bewegungsbaustelle. Lernen mit Kopf, Herz, Hand und Fuß. Modell bewegungsorientierter Entwicklungsförderung entnommen. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Neues Lernen.

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